Athen Wie die Griechen mit der Krise leben

Athen · Griechenland steht wirtschaftlich und politisch am Abgrund – aber auch die Gesellschaft zeigt erste Auflösungserscheinungen. Die Kriminalitätsrate steigt, Suizide nehmen zu, immer mehr Menschen denken an Auswanderung. In die bevorstehende Neuwahl setzt kaum jemand Hoffnungen.

Die Armen von Athen
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Griechenland steht wirtschaftlich und politisch am Abgrund — aber auch die Gesellschaft zeigt erste Auflösungserscheinungen. Die Kriminalitätsrate steigt, Suizide nehmen zu, immer mehr Menschen denken an Auswanderung. In die bevorstehende Neuwahl setzt kaum jemand Hoffnungen.

Es ist eine Zahl, die viel sagt über das Ausmaß der griechischen Krise: 30 Prozent weniger Autos als im Vorjahr verließen zu Pfingsten die Hauptstadt Athen. Die Griechen, die sonst nie eine Gelegenheit auslassen, ihrer lauten, hektischen und in Smog gehüllten Vier-Millionen-Metropole zu entfliehen, feierten das orthodoxe Pfingstfest diesmal zu Hause. Das Land steht wirtschaftlich und politisch am Abgrund, und viele Menschen haben jede Hoffnung verloren.

Kostas Panajiotopoulos ist Bauingenieur und Statiker. Er arbeitet seit 15 Jahren für eines der größten griechischen Ingenieurbüros. "Die Aufträge sind um mehr als 50 Prozent zurückgegangen. Wir beteiligen uns hauptsächlich an öffentlichen Ausschreibungen. Ein ganzes Jahr lang ist nicht ein einziges öffentliches Projekt ausgeschrieben worden."

Allein im vergangenen Jahr mussten 20 Prozent der Mitarbeiter entlassen werden, die Gehälter der Übrigen werden mit sechsmonatiger Verspätung gezahlt. Und doch betrachtet Panajiotopoulos sich als einen der Glücklichen, der überhaupt noch Arbeit hat. Von seinen entlassenen Kollegen hat keiner eine neue Anstellung gefunden.

Die Autos bleiben in der Garage

Der dreifache Vater erklärt, dass vielen Menschen nicht nur das Geld für einen Pfingstausflug fehlt, sondern dass sie existenzielle Sorgen haben. "Früher, da wurde uns gesagt, es gehe uns doch gut. Man bot uns Darlehen an, wir wählten Autos, die eine Nummer zu groß waren, wir bauten Häuser, die ein paar Zimmer zu viel hatten." Und nun können Kredite nicht mehr bedient werden, angesichts explodierender Benzinpreise bleiben die Autos in der Garage, und Immobilienbesitz ist durch Sonderabgaben für viele einst stolze Hausbesitzer zur untragbaren Last geworden.

Seit wenigen Tagen ist es endlich Sommer in Griechenland. Aber in der Werbung und selbst im Wahlkampf spielen die Heizkosten, die auf die Griechen nach dem Sommer zukommen, schon jetzt eine bedeutende Rolle. Auf dem Land wird der Diebstahl von Brennholz gemeldet. Aber auch Einbrüche, Raubüberfälle vor allem auf ältere Menschen, die ihre Ersparnisse von der Bank abgehoben und unter der Matratze versteckt haben, nehmen zu.

Ausländerfeindlichkeit ist nicht nur nach blutigen Auseinandersetzungen zwischen Migranten, die täglich über die grüne Grenze von Schleppern ins Land gebracht werden, und der Lokalbevölkerung in der Hafenstadt Patras zu einem heftig diskutierten Thema geworden. Die rechtsradikale Partei Chrysi Avgi ("Goldene Morgenröte") hat bei der Wahl am 6. Mai erstmals den Einzug ins Parlament geschafft.

Viele Griechen sehen dahinter den Protest gegen den turnusmäßigen Machtwechsel zwischen Sozialisten (Pasok) und Konservativen (Nea Dimokratia), die das Land heruntergewirtschaftet haben. Aber es war wohl auch ein Aufschrei gegen die Sparauflagen der internationalen Geldgeber, gegen die Kürzungen und gesellschaftliches Unrecht.

Die Angst vor dem Zusammenbruch

Viele Griechen können dieses Klima nicht mehr ertragen und denken an Auswanderung. Auch Kostas Panajiotopoulos hat für sich und seine Familie den Plan schon durchgespielt, das Land zu verlassen. "Ich habe große Angst, ich lebe in Sorge und ich bin traurig. Wir haben Grenzen abgebaut, in Europa ist Bedeutendes erreicht worden. Soll das alles vergeblich gewesen sein? Ich habe Angst vor dem, was kommt und was niemand vorhersagen kann."

Zwei Jahre lang schon dauert die Sparpolitik, zwei Jahre lang schon lebt das bankrotte Land in der Angst vor dem Zusammenbruch. "Die Bevölkerung ist zermürbt worden. Drei Monate lang haben Tausende von Menschen vor dem Parlament ihre Verzweiflung zum Ausdruck gebracht, es hat gewalttätige Unruhen und friedliche Streiks gegeben", sagt Panajiotopoulos.

"Wir haben den Gürtel enger geschnallt, sogar unwürdig eng, und doch hat sich nichts verändert. Ich habe neulich zum ersten Mal in meinem Leben an einer Protestkundgebung teilgenommen und bin ins Tränengas geraten. Trotzdem habe ich ein zweites Mal protestiert und hatte Angst um mein Leben. Ein drittes Mal wird es nicht geben."

Irene Maraki, 55 Jahre alt, betreibt einen kleinen Laden, der von Nähgarn über Süßigkeiten bis zu Spielzeug, Schreibwaren, Zigaretten und Strümpfen alles führt, was die Nachbarn brauchen könnten. Sie hat zwei Kinder und zwei Enkel. Und sie wird bei der nach dem Scheitern der Regierungsbildung eilig angesetzten Neuwahl am 17. Juni nicht wählen, weil sie nicht weiß, wen sie wählen sollte, weil sie nicht weiß, was danach geschieht. "Alimono — gnade uns Gott", sagt sie nur.

Fünf Jahre dauert es noch, bis sie Anspruch auf Rente erheben kann. Die Gehälter ihrer Kinder wurden um je die Hälfte gekürzt. Ihr wohlsortierter Laden wirft kaum noch Gewinn ab. Und doch kann sie nicht aufgeben, denn wo soll sie fünf Jahre lang arbeiten?

Selbstmordrate rapide gestiegen

Viele Geschäftsleute haben ihre Läden schon geschlossen, weil sie die Sonderabgaben nicht mehr zahlen konnten. Die Selbstmordrate ist nicht nur in ihren Kreisen rapide gestiegen. Ausweglosigkeit, mangelnde Perspektive und Sorge um das, was nach der Wahl geschieht, nagen an der Volksgesundheit. Die kommissarische Regierung, die das Land bis zu den Neuwahlen führt, musste zuletzt 70 Millionen Euro auftreiben, damit die Apotheker Medikamente zur Behandlung von Krebskranken zur Verfügung stellen. Jahrelange Misswirtschaft und Missbrauch haben dazu geführt, dass auch die Krankenkassen praktisch pleite sind.

Die Mehrheit der rund zehn Millionen Griechen, die jetzt erneut zur Wahl aufgerufen sind, schwankt zwischen Verzweiflung und Wut. Trotzdem glaubt die 18-jährige Architektur-Studentin Nansi Nikolopoulou noch an ihr Land. Es gibt noch Eigeninitiative und Solidarität. Sie berichtet von einem pensionierten Professor, der die Studenten unentgeltlich unterrichtet. Und einem Eigentümer, der sein Grundstück bei Marathon zur Verfügung gestellt hat. In wenigen Tagen schufen Studenten ein Kunstwerk auf der verwahrlosten Scholle, aus ausrangierten Segeln, ein paar Stahlstangen und Brettern, die nahegelegene Werkstätten bereitstellten.

Nansi Nikolopoulou hat noch Träume. Sie will hart arbeiten, später im Ausland auf ihr Studium aufbauen. Sie träumt von einem Arbeitsplatz, an dem sie gestalten kann. Die Gegenwart aber sieht sie mit Ernüchterung. Am 17. Juni will sie weder für Konservative noch Sozialisten stimmen: "Diese Wahl ist keine Abstimmung für eine bessere Zukunft, sondern eine Wahl gegen die schlechte Vergangenheit."

(RP/das/pst)
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