Wahl am 25. Mai Wie Martin Schulz "Mister Europa" werden will

Essen · Der 58-jährige Rheinländer hat ein Ziel: EU-Kommissionspräsident werden. Nahaufnahme eines volksnahen und ehrgeizigen SPD-Kandidaten.

Europawahlkampf: Martin Schulz in NRW
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Viel braucht Martin Schulz nicht, um in Fahrt zu kommen. Ein Biss vom Schokoriegel, ein Schluck Kaffee - und schon sprudelt es aus dem 58-Jährigen heraus: "Benennt die Passage doch nach mir", sagt Schulz und blickt auf einen See im Essener Stadtteil Altendorf. In das künstliche Gewässer flossen Millionen Euro von der EU. "Die Brücke ist zu klein für dich", entgegnet ein gewiefter Genosse, der den Spitzenkandidaten der SPD für die Europawahl begleitet. "Dann nennt es eben Altendorfer Meer. Dann kriegt ihr hier auch Tourismus", legt Schulz nach.

Wenn der Vorsitzende des EU-Parlaments eins nicht kann, dann sich auf die Zunge beißen. Der Rheinländer mit den markanten O-Beinen ("Liegt daran, dass ich mal Fußballprofi werden wollte") ist ein Lautsprecher. Offen, gnadenlos, direkt. "Ich will Europas erster demokratisch gewählter Kommissionspräsident werden", sagt Schulz staatsmännisch und kneift die Augen zusammen. Wer den Wandel in Brüssel wolle, müsse ihn wählen. Zurückhaltung ist hinderlich auf dem Weg nach oben. Und ganz oben ist da, wo Schulz hinwill. Vom Bürgermeister in Würselen bei Aachen, der er einst war, ins höchste Exekutivamt der EU.

Für die europäischen Sozialdemokraten ist Schulz die Speerspitze dieser Mission, der richtige Mann, um sie auszuführen. Und das macht er auf dem ganzen Kontinent. Seit der Osterwoche geht es Schlag auf Schlag: Italien, Spanien, Bulgarien, Irland, Polen. Bei ThyssenKrupp in Duisburg, in Europas größtem Stahlwerk, steht Schulz neben spanischen Arbeitern, die vor der Arbeitslosigkeit im eigenen Land geflohen sind. Zu ihnen gehört auch Antonio Mateo. Seit sechs Monaten malocht er im Ruhrgebiet. Schwitzt an Hochofen acht vor der Gießbühne. Jeden Tag. Für mehr als 1000 Grad Celsius heißes, flüssiges Roheisen. Seine Ehefrau und sein Sohn wollten nicht mit nach Duisburg ziehen. Schulz, selbst Vater von zwei Kindern, schaut bedröppelt drein: "Das muss hart sein." Zum Abschied gibt's einen aufmunternden Klaps auf den Oberarm.

In Düsseldorf besichtigt Schulz das Heizkraftwerk Lausward, fährt auf den 55 Meter hohen Kesselturm der Anlage und erklärt, dass sich Europa fragen müsse, wie seine energiepolitische Zukunft aussieht. Dann ist er auch schon wieder weg. Das Publikum in der Landeshauptstadt war offenbar nicht groß genug für den Mann, der große Auftritte liebt. Ansonsten seien Veranstaltungen mit ihm immer "proppenvoll", erklärt er den Schulz-Effekt. Beim letzten Mal hat der nicht gewirkt: Bei der Europawahl 2009, ebenfalls mit Schulz als Spitzenkandidat, fuhr die SPD mit 20,8 Prozent ihr bislang schlechtestes Ergebnis ein.

In diesem Jahr tritt Schulz ("Entweder die Leute finden mich gut oder abgrundtief scheiße") als Reformer an: "Ich bin kein Brüsseler Bürokrat", beteuert er. Die Botschaft dürfte manchen stutzen lassen. Denn Schulz zählt wie sein konservativer Widersacher Jean-Claude Juncker zum Brüsseler Inventar. Seit 1994 ist er Europaabgeordneter, acht Jahre lang war er Fraktionschef der Sozialisten und Sozialdemokraten, seit 2012 ist er Parlamentspräsident.

Kann so einer die EU vom Kopf auf die Füße stellen? "Ja, weil ich kein bequemer Präsident sein werde", erklärt Schulz, wo immer er auftritt. Er werde die EU gerechter, zeitgemäßer, fitter machen - und so viele Aufgaben wie möglich auf die nationale und lokale Ebene delegieren. Schulz ist sozusagen im Themen-Schlussverkauf: weg mit der Jugendarbeitslosigkeit in Krisenländern, weg mit konservativer Investitionspolitik, weg mit Steueroasen, weg mit skrupellosen Spekulanten an den Finanzmärkten. Nur die früher leidenschaftlich verfochtenen "Eurobonds"- gemeinsame Staatsanleihen starker und schwacher EU-Länder zur Lösung der Schuldenkrise - erwähnt er nicht mehr.

Noch dazu steckt der Sozialdemokrat in einem Dilemma: Er muss ein Produkt verkaufen, das nicht jeder haben will. Laut Umfragen interessiert sich nur jeder dritte Europäer für die Wahl. Dabei hat der Lautsprecher Schulz dem oft belächelten EU-Parlament als Präsident neue Macht verschafft. Am 25. Mai will er die Früchte dafür ernten. Dafür müssten die Sozialdemokraten stärkste Fraktion in Straßburg werden, eine Koalition mit den Konservativen bilden und genug Abgeordnete finden, die für ihren Spitzenmann stimmen. Ob sich allerdings die Mehrheit der 28 EU-Länder zu einem zweiten starken deutschen Akteur neben Angela Merkel durchringen kann, ist fraglich.

In seiner Partei wird Schulz geschätzt. Vor allem von NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft ("Wir sind uns sehr ähnlich"). Sie begrüßt den "Mann, der Europa bewegt", bei der Kundgebung vor der Dortmunder Reinoldikirche. "Martin, Martin", rufen die eigenen Leute, mehr als 1000 sind gekommen. Schulz verneigt sich, geht ans Rednerpult und brüllt: "Ich werde Europa besser machen." Herzliches Winken, Fotos, Abmarsch. Andere Termine warten. Europa ruft, Schulz kommt. Ob es am Ende auch Brüssel sein wird, weiß niemand. Nicht einmal "Mister Europa" selbst.

(RP)
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