Analyse zur EU-Parlamentswahl Europa - die Stimmung kippt

Brüssel/Berlin · Die Wahl zum EU-Parlament am 25. Mai könnte den antieuropäischen Parteien der Rechten und Linken bis zu 30 Prozent bescheren. Auch in Deutschland sind EU-feindliche Töne quer durch alle Parteien zu hören.

Bernd Lucke, der Chef der eurokritischen Partei "Alternative für Deutschland" (AfD), fand das Plakat seiner Partei lustig. Abgebildet ist Nordkoreas Diktator Kim Jong Un — und dazu steht der Text: "Was haben das dicke koreanische Kind und die EU gemeinsam? Das Demokratieverständnis."

Klarer kann eine Gleichsetzung der Vereinigung demokratischer Staaten namens Europäische Union (EU) mit dem zynischen, menschenverachtenden System eines stalinistischen Landes nicht ausfallen. Distanzieren wollte sich niemand in der AfD von diesem Plakat. Das sei doch Satire, wiegelte der niedersächsische AfD-Landesvorsitzende Armin Paul Hampel ab. Bei allen anderen Parteien von der Union bis zu den Grünen stieß das Wahlplakat auf Empörung.

Doch auch die EU-freundlichen Parteien haben ihre Schwierigkeiten mit Europa. Die Parolen der radikalen Brüssel-Kritiker, die in den Institutionen der EU einen gigantischen bürokratischen Apparat zur Bevormundung und Schröpfung der Bürger sehen, verfangen zunehmend bei vielen Parteimitgliedern. "Die Stimmung für Europa kippt", warnt der Europa-Abgeordnete der Grünen, Sven Giegold.

Der "Europaplan" der CSU

Das Europaparlament in Zahlen
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Foto: dpa, Patrick Seeger

Auch für manche der demokratischen Parteien ist die Versuchung groß, mit antieuropäischen Parolen auf Stimmenfang zu gehen. Im "Europaplan" der CSU, dem offiziellen Programm für die EU-Wahl, wird vor der "Brüsseler Regulierungswut" gewarnt und ein "Zuständigkeitsstopp für die EU" gefordert. "Alles, was die Menschen vor Ort angeht — vom Nahverkehr bis zum Trinkwasser —, soll vor europäischen Eingriffen geschützt werden", heißt es im "Europaplan" der Christsozialen. Die rigiden Formulierungen riefen schon den christdemokratischen EU-Parlamentarier Herbert Reul auf den Plan, der seinen Parteifreunden aus Bayern vorwarf, die antieuropäische Stimmung zu bedienen.

Die Linkspartei hält die EU ohnehin für eine undemokratische Veranstaltung. Nur mit Mühe konnte Linken-Fraktionschef Gregor Gysi seine Genossen von einer Präambel zum Wahlprogramm abhalten, worin die EU als "neoliberale, militaristische und weitgehend undemokratische Macht" verunglimpft wird.

Wahlkämpfer der Europa-Parteien CDU, SPD und Grüne berichten auffallend häufig von Veranstaltungen, in denen die eigenen Mitglieder und Wähler gern Argumente der EU-kritischen AfD aufgreifen und damit die Euro-Parlamentarier konfrontieren. "Manche machen sich die Argumente sogar zu eigen", hat der Brüsseler Grünen-Politiker Giegold beobachtet.

Das Wahlprogramm der AfD, das den Rauswurf der südeuropäischen Länder aus dem Euro fordert, hätte fast eine gewisse Popularität bekommen, zumal die Forderungen der AfD im Gegensatz zur Europa-Lyrik der großen Parteien ganz konkrete Handlungsanweisungen enthielten. Ob freilich die Halbierung der EU-Beamten, wie sie die AfD verlangt, ein realistisches Politik-Ziel ist, bleibt dahingestellt.

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Foto: dpa, Bernd von Jutrczenka

Das Desinteresse an der Wahl

Am harmlosesten in der anti-europäischen Stimmung ist noch das Desinteresse an der Europawahl. Mehr als 70 Prozent der deutschen Wähler, so ergab eine Umfrage des ZDF-Politbarometer, sehen den Urnengang für das EU-Parlament am 25. Mai als kaum relevant für sich an. Dass die europäischen Institutionen wie Parlament, Kommission oder Rat kein großes Ansehen beim deutschen Wählervolk genießen, wird in vielen Umfragen bestätigt.

In Deutschland ist die antieuropäische Stimmung neu. Sie kam mit den milliardenschweren Rettungspaketen für die überschuldeten Euro-Staaten. Obwohl sich dort die Lage bessert, scheint sich die EU-Skepsis der Deutschen zu verfestigen. Das Trommelfeuer der AfD, die kritischen Stimmen aus CSU und Linkspartei übertönen den europafreundlichen Wahlkampf der übrigen Parteien. Die unklaren Verhältnisse im EU-Parlament, die teils rigiden Beschlüsse von Kommission und Rat, die Allzuständigkeit des Brüsseler Apparats tun ein Übriges.

Zudem erliegen nicht wenige Politiker der Versuchung, die EU zum Sündenbock für nationale Fehlentwicklungen zu machen. In den Krisenländern werden die EU-Institutionen neben Deutschland für die Schulden- und Wirtschaftsmisere bisweilen allein verantwortlich gemacht, obwohl die Probleme zum größten Teil hausgemacht sind.

In Deutschland ist die Empörung groß, wenn die EU-Kommission bei Ökostrom-Rabatten für die Industrie eingreift oder europaweite Ausschreibungen für die Trinkwasserversorgung oder den Nahverkehr vorschreibt. Dabei haben einheimische Politiker den Markt nach außen abgeschottet oder die Belastungen für die Bürger hochgeschraubt. Die umstrittene Freizügigkeit für die EU-Neumitgliedstaaten Rumänien und Bulgarien sowie die Visafreiheit für andere Balkanstaaten haben die Regierungschefs verabredet, nicht die EU-Institutionen.

Ein diffuses Europa-Bild

Das alles führt zu einem diffusen Europa-Bild, das von vielen Bürgern als anmaßend, verschwenderisch und regulierungswütig wahrgenommen wird. Bewusst ausgeblendet werden die Vorteile des gemeinsamen Markts, des freien Personenverkehrs, des ungehinderten Austauschs, ja der ständigen Streitschlichtung, die ernste Krisen zwischen den EU-Partnern verhindert.

Nicht nur in Großbritannien sehen Populisten größere Vorteile bei einem EU-Austritt. Dabei wäre das Vereinigte Königreich isoliert, weil dessen Regierung nicht mehr in Brüssel vertreten wäre. Länder wie Ungarn oder Tschechien würden den Schutz verlieren, den die Gemeinschaft bei Krisen bietet. In Deutschland ist das gesamte Wohlstandsmodell auf dem freien Austausch von Gütern, Investitionen und Ideen aufgebaut. Ohne Europa wäre die deutsche Wirtschaftskraft eine Scheinblüte.

(RP)
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