Analyse Europa fehlt das Wir-Gefühl

Brüssel · Nach der Rede des britischen Premier David Cameron stellt sich – wieder einmal – die Frage nach der Identität der Europäische Union. Denn nur eine Antwort auf diese Frage kann Camerons Thesen entkräften.

Ein Brite will also Europa retten. Ausgerechnet. Unter dem Deckmäntelchen des Reformers hat Premier David Cameron dem europäischen Festland vorgehalten, woran die Union angeblich krankt: Zu viel Bürokratie und zu wenig politische Legitimation. Dies sind jedoch Vorwürfe, die seit der Unterzeichnung der Maastrichter Verträge 1992 ihre Gültigkeit haben. Weitreichend und neu ist hingegen Camerons These vom fehlenden "europäischen Volk". Damit reduziert Cameron das Projekt der Europäischen Union auf rein wirtschaftliche Notwendigkeiten. Die EU im Sinne Camerons ist nur der Wächter einer funktionierenden Freihandelszone. Umso mehr bekommt die Suche nach einer europäischen Identität existenzielle Bedeutung für die Union. Wenn sie als politische Instanz nicht zerrissen werden will, muss sie die kulturelle Integration vorantreiben.

"Die EU hat vergessen, ihren Bürgern eine funktionierende Geschichte zu erzählen." So erklärt der Essener Kulturwissenschaftler Claus Leggewie eine Ursache für das fehlendes "Wir-Gefühl". Die Legitimation der Union gründe seit den 50er Jahren auf dem Versprechen eines fortwährenden Friedens in Wohlstand. Weil aber der Krieg als reale Bedrohung für immer weniger Europäer Teil der persönlichen Geschichte ist, müsse die Europäische Union mehr als nur ein Garant für kontinentalen Frieden sein: "Eine andere Geschichte hat die EU aber noch nicht gefunden", sagt Leggewie.

Der Blick zurück bietet jedenfalls keine Perspektive. Die Selbstverständlichkeit, mit der europäische Identität im 15. Jahrhundert bedeutete, den christlichen Glauben gegen die anstürmenden Osmanen zu verteidigen, passt nicht zum säkularen, multikulturellen Europa der Gegenwart. Und auch das Gefühl einer kulturellen Überlegenheit, aus dem die Aufklärer ein europaweites Netzwerk schufen, funktioniert in einer globalisierten Welt nicht.

Es fehlt die Konstante, der Fixstern, auf den sich 750 Millionen Europäer ausrichten lassen. Dieses Manko hat der damalige Präsident der Europäischen Kommission, Jacques Delors, bereits 1992 kritisiert: "Wenn es uns nicht gelingt, Europa in den nächsten Jahren eine Seele, eine Spiritualität zu verschaffen, werden wir das Spiel verloren haben."

Was Brüssel bisher geschaffen hat, ist eine Art Geisterbahn der supranationalen Symbolik: eine Hymne, die viele mit Beethoven, aber wenige mit der Union verbinden; ein Sternenbanner, die allenfalls als schlechte Kopie der amerikanischen Flagge durchgeht; und eine Präambel im Gründungsvertrag von Maastricht, in der Identität aus einer "gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik" abgeleitet wird. Tatsächlich mag eine gemeinsame Stimme nach außen die Einheit Europas definieren, nach innen funktioniert dieser Pragmatismus aber nicht.

Die von Brüssel so erfolglos betriebene Suche nach europäischen Symbolen vergisst, dass Identität kein Automatismus ist. Was es bedeutet, der EU anzugehören und ein Europäer zu sein, wird mitnichten durch Flaggen, Hymnen, Geburt oder die Staatsbürgerschaft definiert. Die gefühlte Zugehörigkeit zu einem Kollektiv setzt vielmehr voraus, dass es überhaupt ein Bedürfnis nach Gemeinschaft gibt. Die Geschichtswissenschaft hat mittlerweile schlüssig dargelegt, warum etwa Nationalstaaten keineswegs nur über gemeinsame Grenzen und eine gemeinsame Sprache konstituiert wurden. Vielmehr lassen sich fast überall vergleichbare Konstruktionsprozesse feststellen, die den inneren Zusammenhalt der Gemeinschaft garantierten.

Bestes Beispiel: das "Wunder von Bern". Der Sieg der Herberger-Elf bei der Fußball-Weltmeisterschaft 1954 wird rückblickend als emotionale Geburtsstunde der Bundesrepublik verklärt. Tatsächlich funktioniert der Mythos nur, weil die Überhöhung des Ereignisses bereits fester Bestandteil der Erzählung ist. Das "Wunder von Bern" ist nicht die nüchterne Wiedergabe eines sportlichen Erfolges, sondern die begeisterte Schilderung eines Erweckungsmomentes. Deutschland hat sich seinen Gründungsmythos gleichsam selbst geschaffen, indem es den Gewinn der Weltmeisterschaft als Erlösung aus einer Schockstarre empfand. Jede Kommunikation des Ereignisses, ob medial oder in persönlichen Schilderungen, befriedigt seither dieses Gefühl und schafft damit eine gemeinsame, generationsübergreifende Basis des Erinnerns.

Das deutsche Wir-Gefühl wie es im "Wunder von Bern" deutlich wird, funktioniert als Konstruktion von unten – "vor dem Hintergrund der Hoffnungen, Bedürfnisse, Sehnsüchte und Interessen der kleinen Leute" , wie der britische Historiker Eric Hobsbawm in seiner Definition von Nationen schreibt. Zwei Weltkriege und rund 80 Millionen Gefallene haben jedoch gezeigt, dass ein Europa der Nationalstaaten nicht funktioniert. Demzufolge sind auch alle Versuche, nationale Sinnstifter auf Europa zu übertragen, zum Scheitern verurteilt. Dafür war die europäische Geschichte zu blutig.

Der Blick muss sich also nach vorne richten. Das Europa der Gegenwart und Zukunft ist ein Europa der Vielfalt. "Um zu verstehen, was Europa tatsächlich ist, muss man nur in ein Auto steigen und einmal von Norden nach Süden, von Osten nach Westen fahren. Die Freiheit zu reisen und die Vielfalt seiner Bewohner machen Europa zum besten Ort auf Erden", sagt Claus Leggewie.

Tatsächlich gab es bereits Momente, als diese Vielfalt über alle Landesgrenzen hinweg für schützenswert erachtet wurde. Als 2000 in Österreich die rechtspopulistische Partei Jörg Haiders, die FPÖ, ins Kabinett aufrückte, entzündete sich eine EU-weite Debatte über europäische Werte. Sanktionen gegen den Mitgliedsstaat schienen legitim, weil der gemeinsame Konsens – Demokratie, Achtung der Menschenrechte und kulturelle Vielfalt – bedroht schien.

Eben jener Konsens steht nun erneut auf dem Spiel. Die Währungskrise hat die Instabilität der Gemeinschaft deutlich gemacht. Doch der Krise wohnt auch eine bedeutende Chance inne. Die erfolgreiche Bewältigung könnte Ausgangspunkt einer ganz neuen Geschichte sein, wie sie Claus Leggewie fordert und wie sie etwa in Deutschland am Beispiel des "Wunders von Bern" erzählt wird. Angesicht der gewaltigen Herausforderungen sind die EU-Mitgliedsländer gezwungen, ihre Position zur europäischen Gemeinschaft intensiv zu hinterfragen. Solange das Bedürfnis besteht, Teil eines Kollektivs zu sein, so lange besteht die Chance auf eine erfolgreiche Konstruktion. Ein lebendiges Europa baut man auch, indem man darüber streitet.

(RP)
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