Axel Seidel "Falsches Sparen an der Infrastruktur kann viele Jobs gefährden"

Der Partner des Forschungsunternehmens Prognos fordert einen Masterplan für Straßen und Internet. Das Land müsse auch mehr für junge Familien tun.

Herr Seidel, NRW sieht sich gegenüber südlichen Bundesländern wie Bayern oft als Absteigerland. Wie ist Ihre Sicht der Dinge?

Seidel Sicher haben Bayern oder auch Baden-Württemberg deutlich niedrigere Arbeitslosenzahlen als NRW. Aber NRW muss sich nicht verstecken und hat riesiges Potenzial: In keinem anderen Bundesland gibt es mehr ausländische Direktinvestitionen. Der breite Mix an Industrien gibt viele Wachstumsmöglichkeiten.

Wo liegen denn die Stärken von NRW in der Industrie?

Seidel Insbesondere in der chemischen Industrie, im Maschinenbau und in der Elektrotechnik spielt NRW eine wichtige Rolle. Und das frühere Land von Kohle und Stahl hat sich mehr zum Dienstleistungsstandort entwickelt, als viele denken. Es ist damit beim Strukturwandel weit gekommen.

Goodbye, tradtionelles Industrieland NRW?

Seidel Die zunehmende Stärke des Dienstleistungsbereiches lässt sich nicht von der guten Position vieler Indusstriekonzerne und auch Mittelständler auf dem Weltmarkt trennen. Ein Drittel ihrer Vorleistungen beziehen die von oft hoch spezialisierten Dienstleistern wie Werbeagenturen, DSL-Anbietern, Anwaltskanzleien oder auch Reinigungsfirmen. Der industrielle Kern treibt also die ganze Wirtschaft voran.

Was muss das Land NRW tun, damit es vorangeht?

Seidel Ab 2015 droht eine zunehmende Lücke bei Fachkräften. Da muss gegengesteuert werden, damit die Unternehmen wachsen können. So fällt uns auf, dass Mütter in NRW im Schnitt nur 14,5 Stunden arbeiten, bundesweit aber 16,9 Stunden. Ihnen sollten also bessere Angebote gemacht werden, um Berufsarbeit und Familienleben miteinander zu vereinbaren. Land und Firmen müssen auch mehr tun, damit Beschäftigte Berufstätigkeit und Pflege ihrer Eltern besser miteinander vereinbaren können.

Braucht NRW mehr Einwanderer?

Seidel Wir müssen vorrangig alle arbeitsfähigen Menschen besser in den Arbeitsmarkt integrieren. Wenn Akademiker mit Migrationshintergrund dreimal so oft arbeitslos sind wie aus Deutschland kommende Hochschulabsolventen, muss gegengesteuert werden. Auch müssen junge Männer und Frauen die Chancen im dualen Ausbildungssystem besser erkennen. NRW muss insgesamt als Bildungs- und Forschungsstandort gestärkt werden.

Sie fordern einen Masterplan Infrastruktur für NRW. Was soll das denn bringen?

Seidel NRW ist die wichtigste Verkehrsdrehscheibe in ganz Europa. Davon profitieren auch viele Unternehmen hier, gerade in der Logistikbranche, aber auch in der Industrie. Das Land und der Bund müssen also deutlich mehr tun, um Straßen und Schienenverbindungen instand zu halten und zu modernisieren. Gleichzeitig müsste in einem solchen Masterplan auch untersucht werden, welche Investitionen in andere Infrastrukturen wie Wasserversorgung, Stromnetze, Fernwärme, Häfen und speziell Versorgung mit sehr schnellen Internet-Anschlüssen notwendig sind.

Damit die Leute mehr Youtube-Videos gucken?

Seidel Unterschätzen Sie nicht die Kraft der Digitalisierung. Wir haben errechnet, dass die zunehmende Digitalisierung seit Ende der 90er Jahre das Wachstum um 0,5 Prozentpunkte pro Jahr erhöht hat. Aktuell sehe ich dagegen, dass viele kleine und mittlere Firmen die Chancen der Digitalisierung weit unterschätzen.

Heute investieren, um künftige Jobs zu sichern?

Seidel Die eine Stärke von NRW und Deutschland insgesamt sind die gut ausgebildeten Menschen gerade inklusive der Absolventen des dualen Ausbildungssystems. Die andere Stärke ist unsere noch halbwegs gute Infrastruktur. Wenn da aber am falschen Platz gespart wird, kann das auf Dauer sehr teuer werden und viele Jobs gefährden.

Ist Bildung die Stellschraube?

Seidel Bildung wird die wichtigste Ressource des 21. Jahrhunderts werden. Und Know-how ist der zentrale Wettbewerbsvorteil der Unternehmen.

REINHARD KOWALEWSKY FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

(RP)
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