Analyse Die klassische Familie am Ende?

Düsseldorf · Noch Mitte der 90er waren mehr als 80 Prozent der Eltern in Deutschland verheiratet. Heute wachsen deutlich mehr Kinder in anderen Strukturen auf. Kein Grund zur Besorgnis, sagen Psychologen und Wissenschaftler.

So viele Familien bestehen aus Ehepaaren mit Kindern
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Foto: dpa

Das Bollwerk Familie wackelt. Zumindest auf dem Papier. Fast jede dritte Familie in Deutschland lebt nicht mehr nach dem klassischen Modell, belegen Daten des Statistischen Bundesamtes. 20 Prozent der Väter und Mütter waren im vergangenen Jahr alleinerziehend, zehn Prozent lebten in nichtehelichen oder gleichgeschlechtlichen Partnerschaften. Zwar dominiert noch immer die Ehe das Familienleben der Deutschen, denn 70 Prozent der Eltern in den insgesamt knapp 8,1 Millionen Familien mit mindestens einem minderjährigen Kind sind verheiratet. Aber 1996 waren es noch deutlich mehr, nämlich 81 Prozent.

Mikrozensus 2013 gibt eindeutige Zahlen vor

Diese Zahlen ergeben sich aus dem Mikrozensus 2013, der größten jährlichen Haushaltsbefragung in Deutschland und Europa. Als Familien gelten dabei alle Eltern-Kind-Gemeinschaften, bei denen mindestens ein Kind unter 18 Jahren im Haushalt lebt. Zu den Kindern zählen leibliche, aber auch Stief-, Pflege- und Adoptivkinder. In Deutschland wie auf europäischer und internationaler Ebene leben Kinder heutzutage häufiger in anderen Familienmodellen als früher. Die Zahl der Alleinerziehenden ist seit 1996 um sechs Prozent gewachsen, die der Lebensgemeinschaften hat sich verdoppelt.

Für die Düsseldorfer Psychologin Susanne Altweger ist das aber nicht alarmierend. Die meisten Kinder seien aus psychologischer Sicht enorm anpassungsfähig. Bedenklicher, als in einer Familie aufzuwachsen, in der die Eltern keinen Trauschein besitzen, sei es, die Sprösslinge ab dem ersten Lebensjahr in eine Kita zu geben. "Kinder brauchen ein Fundament - ob die Eltern dabei verheiratet sind oder nicht, ist erst mal nicht dramatisch", sagt Altweger. Fehle diese Bindung in den ersten Jahren, könne das Folgen in der Entwicklung haben: "Wir wissen nicht, ob wir auf eine Generation Borderline zusteuern."

Kinder bestimmen das Familienleben

Kinder sind nach Ansicht des Soziologen Jürgen Dorbritz vom Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) in Wiesbaden auf jeden Fall auch der Grund, warum die Ehe noch immer die wichtigste Familienform in Deutschland ist: "Sie sind häufig der Anlass, eine Ehe zu schließen." Oder eben nicht. Weil die Menschen seltener Kinder bekämen, sähen sie auch keine Notwendigkeit zu heiraten, erklärt Johannes Stauder, Familiensoziologe an der Uni Heidelberg. Das sage aber nichts über den Bedeutungsverlust der Ehe aus, sondern nur des Trauscheins. "Eine Partnerschaft gehört nach wie vor zu den erstrebenswertesten Dingen, die der Mensch kennt", sagt Stauder.

Aber warum hadert der Mensch dann mit der Institution der Ehe? Dazu muss man die gesellschaftliche Entwicklung betrachten. War die Ehe nach dem Krieg noch ein unglaublich hohes Gut, der Indikator für eine stabile Welt, die Grundlage auch für wirtschaftliches Wachstum, wurde sie in den folgenden Jahrzehnten mehr und mehr infrage gestellt. Die 68er geißelten sie als spießigen Ausdruck des Establishments, während die 80er in einer Gegenbewegung den Trauschein als Anker in einer sich stärker zersplitterten Gesellschaft wiederentdeckten. Endgültig veränderte sich die Haltung zur Ehe aber durch die zunehmende Berufstätigkeit der Frauen. Diente die Ehe in der traditionellen Arbeitsteilung dazu, die Frau abzusichern, fiel dieser Aspekt irgendwann weg. "Mit den guten Erwerbschancen für Frauen war ihr Anreiz, eine gegebenenfalls unbefriedigende Ehe aufrechtzuerhalten, nicht mehr so hoch", sagt Stauder.

Die Folge: höhere Trennungsraten und eine steigende Zahl von sogenannten Patchwork-Familien, weil die Geschiedenen sich neue Partner suchen. Die Soziologie kennt dazu noch den Begriff der Scheidungsspirale: Wenn die Zahl der Trennungen steigt, nimmt auch die Akzeptanz dafür zu, und andere Paare übernehmen das Verhalten. Anders gesagt: Scheidungen sind heute kein biografischer Makel mehr, sondern gesellschaftlich akzeptiert.

Einstellung zur Ehe wandelt sich grundsätzlich

BiB-Soziologe Jürgen Dorbritz sieht darüber hinaus einen grundsätzlichen Wandel in der Einstellung zur Ehe. Nach einer Umfrage des BiB zum Familienleitbild der Deutschen von 2012 lehnen 35 Prozent zwischen 20 und 39 Jahren die Ehe als überholte Einrichtung gänzlich ab. Jeder zehnte junge Mensch wolle kinderlos bleiben, sagt Dorbritz. Das spiegeln auch Zahlen des Statistischen Bundesamts von 2011: Nur noch knapp die Hälfte der Menschen in Deutschland lebt überhaupt in einer Familie mit Kindern. Nachwuchs aber, sagt Johannes Stauder, wirke sich sehr stabilisierend auf eine Beziehung aus: "Ohne Kinder besteht ein höheres Trennungsrisiko."

Besonders im Osten Deutschlands bleibt laut Mikrozensus die Distanz zur Ehe bemerkenswert. "Auffällig ist, dass im Osten vor allem in den Flächenstaaten weniger Menschen kinderlos leben als im Westen, aber auch weniger verheiratet sind", so Dorbritz. In Sachsen-Anhalt und Sachsen ist - neben der Hauptstadt Berlin - der Anteil der Ehepaare mit je 51 Prozent am niedrigsten, dort sind auch Lebensgemeinschaften am häufigsten (je 23 Prozent). In Rheinland-Pfalz dagegen ist diese Form der Familie am seltensten (sechs Prozent).

Ohnehin lässt sich aus den Zahlen weniger das Ende des Rollenmodells Familie herauslesen; stattdessen stellen die Daten eher die Ehe infrage. "Die Familie wird weiter gelebt", sagt die Psychologin Altweger, "auch gleichgeschlechtliche Partnerschaften streben das Modell an". Das Ansehen der Ehe kann aber auch wieder steigen, der gesellschaftliche Wandel vollzieht sich laut Altweger heute bedeutend schneller. Sie konstatiert derzeit sogar eine extreme Welle der Romantisierung. Gerade in wirtschaftlich und politisch unsicheren Zeiten manifestiere sich diese Ur-Sehnsucht nach Romantik, ein Streben nach Sicherheit und Stabilität.

Familie und Ehe sind also noch lange keine geschiedenen Leute.

(RP)
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