Istanbul Faustkampf statt Debatte im türkischen Parlament

Istanbul · Das türkische Parlament in Ankara gleicht in diesen Tagen einem Boxring. Die Bilanz der Faustkämpfe am Donnerstag verzeichnete eine gebrochene Nase, einen Wadenbiss, zahlreiche Prellungen und ein gestohlenes 15.000-Euro-Mikrofon. Tags zuvor waren sich Abgeordnete der Regierungspartei und der Opposition buchstäblich an die Kehle gegangen. Der Streit hatte sich entzündet, nachdem Parlamentarier der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP ihre Stimmen offen abgegeben hatten, obwohl die Verfassung bei Parlamentsvoten zu ihrer Veränderung geheime Stimmabgaben vorschreibt.

Auf der Tagesordnung steht nichts Geringeres als die Selbstentmachtung des Parlaments zugunsten der auf den Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan zugeschnittenen Exekutivpräsidentschaft. Seit Dienstag streiten die 550 Abgeordneten um 18 Artikel der Verfassung, die nach dem Willen der islamisch-konservativen AKP-Regierung geändert werden sollen, um aus der parlamentarischen eine präsidiale Republik zu machen. Pro Tag wird über zwei bis drei Artikel erstmals abgestimmt, übernächste Woche folgen die entscheidenden zweiten Abstimmungen.

Bisher hat der Präsident der Türkei ähnlich wie in Deutschland vorwiegend zeremonielle Befugnisse. Die angestrebte Verfassungsänderung macht ihn zum Leiter der Exekutive und schafft das Amt des Ministerpräsidenten ab. Obwohl es sich um die wohl bedeutsamste Parlamentsdebatte in der Geschichte der 1923 gegründeten türkischen Republik handelt, lehnte die AKP-Mehrheit ihre Live-Übertragung ab. Aus den Nachrichten erfahren die Bürger jetzt zwar viel über Faustkämpfe, aber wenig über Inhalte. Ohnehin finden die wichtigen Abstimmungen meist nach Mitternacht statt. Und eine öffentliche Debatte gibt es praktisch nicht.

"Die Regierung will nicht, dass die Menschen informiert werden, was der Systemwechsel bedeutet", sagte Enis Berberoglu, Abgeordneter der sozialdemokratischen Oppositionspartei CHP, unserer Zeitung. In dieser Woche genehmigte eine Parlamentsmehrheit Artikel, die dem Präsidenten unter anderem erlauben, einer politischen Partei anzugehören und Gesetze ohne Zustimmung des Parlaments zu verabschieden. Kommt das Paket durch, hätte er die Macht, einen Großteil der obersten Richter zu ernennen, das Parlament aufzulösen sowie den Ausnahmezustand zu erklären. Ein Amtsenthebungsverfahren wäre nur unter extremen Bedingungen möglich. Zwar beziehen sich Erdogan und seine Anhänger stets auf die Vorbilder USA und Frankreich, zwei funktionierende Präsidialdemokratien - jedoch ohne deren demokratische Kontrollen vorzusehen. "Es wäre die legale Einführung der Diktatur", sagt Berberoglu.

(RP)
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