Ferguson Fergusons langer Weg zur Versöhnung

Ferguson · Knapp drei Monate nach den Rassenunruhen ringt die US-Stadt um Normalität. Noch ist die Wut groß, die Angst vor neuen Krawallen auch.

Was Ferguson im Moment am dringendsten braucht, glaubt Brian Fletcher genau zu wissen: Ferguson braucht Mut, Zuversicht und Plakate mit Herzen. Ein tiefrotes Herz in der Mitte, davor ein "I" für "Ich", dahinter ein "Ferguson" - das Poster soll signalisieren, dass die Bewohner ihre Stadt lieben, dass sie kämpfen für ihren Ruf, mag der Rest des Landes auch den Kopf schütteln über Gummigeschosse und Tränengas. Demnächst wird Fletcher in Ferguson einen Laden aufmachen, damit die Menschen spenden für kleine Geschäftsleute, die wegen der Ausschreitungen vor dem Ruin stehen. Wer Solidarität übt, darf sich zum Dank ein T-Shirt aussuchen, mit dem Herzmotiv.

Bis 2011 war Fletcher hier Bürgermeister, sein Porträt hängt gerahmt im Rathaussaal, der mit seinen Flaggen und Wappen so prächtig wirkt, wie das Gebäude von außen, mit seiner verwitterten Klinkerfassade, an eine vernachlässigte Fabrikhalle denken lässt. Als Ferguson brannte, im August, nachdem der Polizist Darren Wilson den schwarzen Teenager Michael Brown erschossen hatte, lag Fletcher in einer Klinik, um sich Stents in die verengten Herzkranzgefäße setzen zu lassen. "Es waren verdammt harte Wochen", sagt der schwergewichtige Mann und meint die Krawalle ebenso wie seine Krankengeschichte. "Aber wir werden beweisen, dass Ferguson nicht so schlecht ist."

"Beauty Town is back", steht auf der Bretterfassade eines mehrfach geplünderten Kosmetiksalons am Bahndamm. Es wirkt wie ein Flehen. Im "Corner Coffee House" tragen die Kellnerinnen Blusen mit der Aufschrift "Ferguson Strong". Ferguson soll stark bleiben. Wenn es nur so einfach wäre.

Wenn man sich an einem Dienstagabend ins Rathaus setzt, um den Bürgern zuzuhören, wird klar, dass die optimistischen Parolen nicht viel mehr sind als Tünche. Man merkt es schon daran, wie erregt ein Mittdreißiger namens Drew Candy mit seinem Smartphone fuchtelt. "Alles gespeichert, ich kann alles nachweisen", ruft er und erzählt von seinen Filmaufnahmen, von rüden Beamten, die auch harmlose Demonstranten umherschubsten, bevor sie ihnen die Hände mit Plastikfesseln banden. Einmal in Fahrt, geht Candy die Stadtoberen an. "Wo waren Sie denn, als das alles passierte? Seitdem höre ich von Ihnen nur: Ich kann dies nicht tun, ich kann jenes nicht tun. Mein Gott, wie ich mich schäme für Sie."

Sechs Ratsmitglieder sitzen an einem hufeisenförmigen Tisch aus Eichenholz, fünf Weiße, ein Schwarzer, in der Mitte der Bürgermeister, James Knowles III. Ihnen gegenüber eine aufgewühlte Menge, die mehr oder weniger deutlich die Abwahl der Würdenträger fordert. Einer nach dem anderen tritt ans Mikrofon, zwei Minuten Redezeit. In allen Ecken sind Polizisten platziert, um notfalls eingreifen zu können. Nichts ist normal in Ferguson.

Bernie Frazier nutzt ihre 120 Sekunden, um die Kids, wie sie die Freunde Mike Browns nennt, zur Vernunft zu rufen: "Eure Fäuste gewinnen nichts, lasst uns reden!" Als Nächstes knöpft sie sich die Ordnungshüter vor. Proteste abzuwürgen, das gehe gar nicht: "Auch Jesus war ein Protestler, und wenn ihr für Jesus seid, könnt ihr nicht gegen Proteste sein." Frazier spielt mit dem Gedanken, selber fürs Bürgermeisteramt zu kandidieren. Würde sie gewinnen, schriebe sie Geschichte. Es wäre das erste Mal, dass eine Afroamerikanerin den Stadtrat führt. Irgendwann sagt ein älterer Herr, dass die Kids endlich eines kapieren müssten: "Wir führen ein Leben in Angst, das kann so nicht weitergehen." Ein Bekannter habe ihm zum Umzug geraten, am besten gleich, denn in fünf Jahren gingen in Ferguson die Lichter aus: "Bitte zeigt ihm, dass er sich irrt."

Noch ist unklar, ob der Kessel ein zweites Mal explodiert. Mancher prophezeit neue Unruhen, falls Wilson nicht vor Gericht gestellt wird. Die Geschworenenjury, die darüber entscheidet, tagt im Geheimen; keiner kann seriös voraussagen, zu welchem Schluss sie gelangt. Jay Nixon, der Gouverneur von Missouri, will eine Expertenkommission untersuchen lassen, wieso die Gräben zwischen Arm und Reich, zwischen Schwarz und Weiß im Großraum St. Louis breiter klaffen als irgendwo sonst in den USA. Es hat, so scheint es, eine Phase kollektiven Grübelns begonnen. Was ist schiefgelaufen? Wieso gibt es im Police Department so wenige Afroamerikaner?

Steve Runge gibt das Kontrastprogramm zu den aggressiven Cops, allein schon mit seinen lockeren Sprüchen. "Wir sind keine John Waynes, die in Autos mit dunkel getönten Scheiben Patrouille fahren", sagt er und erzählt von den Wimpeln, die er manchmal verteilt. Wimpel der Cardinals, Wimpel der Rams, eines Baseball- und eines Footballteams. Sport verbindet, das ist die Idee. Runge leitet die Polizei von Charlack, einer Kleinstadt südlich von Ferguson, zwei Drittel weiße, ein Drittel schwarze Bewohner. Aber das Bild des aufgeklärten Reformers in Uniform, bei manchen stößt es auf Skepsis. "Officer, Sie waren doch auch im Einsatz, als wir auf die Straße gingen", ruft eine aus Browns Freundeskreis, ein Mädchen namens Jeanelle. "Ich stand vier Nächte im Tränengas. Wieso haben Sie nichts dagegen getan?"

So einfach ist es nicht mit der Versöhnung in Ferguson.

(RP)
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