Demokratie-Serie (5) Frag doch mal das Volk

Berlin · Die Schweiz gilt als Musterbeispiel für die unmittelbare Beteiligung der Bürger an politischen Entscheidungsprozessen. Doch die direkte Demokratie ist zweischneidig und umstritten - auch unter Eidgenossen.

In der Schweiz kommt es regelmäßig zu Volksabstimmungen.

In der Schweiz kommt es regelmäßig zu Volksabstimmungen.

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Frage chostet nüt - Wie keine andere Nation hat die Schweiz diese Redewendung zum Prinzip erhoben. Die Eidgenossen verfügen neben Liechtenstein über das am weitesten ausgebaute direktdemokratische Instrumentarium. Nirgendwo sonst ist die Entscheidung von Bürgern so oft gefragt wie in der Schweiz.

Sich ausgedacht - und abgelehnt - haben die Schweizer unlängst etwa die eidgenössische Volksinitiative "Für Ehe und Familie - gegen die Heiratsstrafe", die die Gleichstellung der Ehe von homo- und heterosexuellen Paaren beenden sollte, oder die eidgenössische Volksinitiative "Für ein bedingungsloses Grundeinkommen". Angenommen hingegen wurden die Initiativen "Gegen den Bau von Minaretten" und "Gegen Masseneinwanderung".

Das Besondere an direkter Demokratie, wie sie in der Alpenrepublik praktiziert wird, ist ihre Unabhängigkeit von Wahlen. Politische Entscheidungsverfahren können mit Hilfe von Volksabstimmungen jederzeit in Gang gesetzt werden. Direktdemokratie ist in diesem Fall keineswegs das Gegenmodell einer repräsentativen Demokratie, weshalb die präzisere Bezeichnung "halbdirekte Demokratie" heißen müsste. Immerhin aber fließt über Volksabstimmungen der Bürgerwille in den parlamentarischen Prozess unmittelbar mit ein.

Somit geht direkte Demokratie über das verbreitete Verfahren hinaus, bei dem Politiker stellvertretend für ihre Wähler alle relevanten Entscheidungen treffen sollen. Dem mag die Erfahrung zugrunde liegen, dass politisches Personal zwar nie ohne Agenda antritt, Parteiprogramme jedoch selten die Mühlen des Politikbetriebs unbeschadet überstehen und manch flammend vorgetragenes Vorhaben wieder kassiert werden muss, weil ein Koalitionspartner nicht mitmacht oder die erforderliche Zweidrittelmehrheit nicht zustande kommt. Da eröffnen Referenden, Volksbegehren und Plebiszite den Bürgern die Möglichkeit, inhaltliche Sachfragen selbst zu beantworten und die Politik mit der Umsetzung ihrer Entscheidung zu beauftragen.

Was kann es also Erstrebenswerteres geben, als Volkes Stimme solches Gewicht zu verleihen? Zumal in der Schweiz seit 1848 jede vom Parlament beschlossene Verfassungsänderung ebenfalls durch eine Volksabstimmung gebilligt werden muss. Ist direkte Demokratie damit nicht politische Bildung pur? Ein Allheilmittel gegen die um sich greifende Politikverdrossenheit, weil sich die Menschen mehr interessieren, sich besser informieren und am Ende eher bereit sind, die Folgen von Entscheidungen zu akzeptieren, weil es ja die ihren sind? Und außerdem: "Frage chostet ja nüt."

So stellen es jedenfalls die Befürworter direktdemokratischer Instrumente dar. Allerdings: Abgesehen von geschätzten Kosten von elf bis zwölf Millionen Euro pro Urnengang (40 davon in einer Legislaturperiode sind keine Seltenheit) können Volksabstimmungen die Schweiz teuer zu stehen kommen. Das Ja zur Zuwanderungsbegrenzung 2014 ist dafür ein Paradebeispiel: Es hat nicht nur Studenten einstweilen die Teilnahme am Erasmus-Programm gekostet. Nicht wenige Politiker und Unternehmer unter den Eidgenossen machte die Entscheidung zum Leidgenossen: Der Erklärungsbedarf gegenüber Unternehmen, die sich für einen Standort in der Schweiz interessieren, sei beträchtlich gestiegen, heißt es.

50,3 Prozent der Schweizer hatten für diese Initiative gestimmt, die nach dem Brexit beinahe einen "Schwexit" heraufbeschworen hätte. Denn obwohl die Schweizer nicht Mitglieder der Union sind, haben sie vollen Zugang zum EU-Binnenmarkt. Im Gegenzug müssen sie Bürger aus der EU bei sich wohnen und arbeiten lassen.

Hätte die Regierung in Bern den Auftrag des Volkes am Ende nicht trickreich abgeschwächt, hätten harsche Konsequenzen gedroht: Durch eine "Guillotine-Klausel" wären Abkommen über Verkehr, Landwirtschaft, Zusammenarbeit in Wissenschaft und Technologie automatisch hinfällig geworden. Man ahnt, wie schwierig es würde, verfügten eng in EU und Nato eingebundene Länder über ähnlich direktdemokratisch geprägte Entscheidungsmechanismen.

Bemerkenswert: In Umfragen befand eine Mehrheit der Schweizer anschließend, die Verträge mit der EU seien wichtiger als die Umsetzung des Volksentscheids. Und es dauerte nicht lange, da forderte die Initiative "Raus aus der Sackgasse", das Votum umzukehren.

"Frage chostet nüt" - das trifft dann wohl am ehesten auf jene zu, die solche Fragen stellen. Für eine eidgenössische Volksinitiative müssen sie bloß binnen 18 Monaten 100.000 Unterschriften sammeln. Politische Konsequenzen fürchten für das, was sie anrichten, müssen die Initiatoren hingegen nicht. Mit anderen Worten: Es gibt keine wirklich Verantwortlichen, auch wenn die Mehrheit der Schweizer Kantone das Ergebnis von Abstimmungen über Volksinitiativen oder bei obligatorischen Referenden gutheißen muss. Kritiker der direkten Demokratie in der Schweiz bemängeln in diesem Zusammenhang, dass dem Lobbyismus - ohnehin ein Problem in der repräsentativen Demokratie - Tür und Tor geöffnet werde, weil interessierte Kreise bereitwillig Geld für die Meinungsbildung zu ihren Gunsten in die Hand nähmen.

Fragwürdig bleibt auch, ob sich komplexe Sachverhalte auf simple Ja-Nein-Alternativen reduzieren lassen. Zeigt sich das Wesen der Demokratie nicht gerade im Kompromiss? Es ist kein Zufall, dass Populisten, die sich gern im Schwarz-Weiß-Raster bewegen, Volksabstimmungen für eine fabelhafte Einrichtung halten. Selbst Befürworter der direkten Demokratie räumen ein, dass die im Allgemeinen verhältnismäßig niedrige Abstimmungsbeteiligung die Ergebnisse verfälscht. Warum nicht qualifizierte Mehrheiten von zum Beispiel 60 Prozent der Stimmberechtigten verbindlich einführen? Die Frage ist erlaubt. Und sie kostet auch nichts.

(RP)
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