Analyse Frankreich - ein Land zerlegt sich

Düsseldorf · Deutschlands wichtigster Partner in Europa droht an seiner Reformunfähigkeit zu zerbrechen. Dabei haben viele Franzosen längst eingesehen, dass sich ihr Land modernisieren muss. Aber dafür bleibt nicht mehr viel Zeit.

Analyse: Frankreich - ein Land zerlegt sich
Foto: dpa, ab bl vfd

Ist das nun Wirklichkeitsverweigerung? Wählerverdummung? Oder einfach nur zynisch? "Frankreich geht es besser", behauptet Staatspräsident François Hollande. Und sein Premierminister Manuel Valls will bemerkt haben, dass die stolze Nation dabei sei, "ihr Haupt wieder zu heben".

Worte, die nicht passen zur Wahrnehmung der Franzosen. Ihre Heimat wird in diesen Tagen erschüttert von Protesten und gelähmt durch Streiks. In den Straßen vieler Städte brennen Autoreifen und wabern Tränengasschwaden. Randalierer verwüsten Geschäfte, zünden Autos an und prügeln Polizisten krankenhausreif. Das Klima in der Regierung ist derweil vollkommen vergiftet, die sozialistische Partei von Hollande ist kurz vor der Spaltung. Knapp drei Wochen vor Beginn der Fußball-EM steht Frankreich politisch am Rande des Abgrunds. Und in den Talkshows orakeln sie schon, ob Frankreich mal wieder eine Revolution droht, weil das Land unfähig ist, selbst eine Minireform hinzubekommen.

Die derzeitigen Proteste richten sich gegen ein geplantes Arbeitsmarktgesetz. Angekündigt wurde es als großer Wurf, der endlich etwas bewirken sollte gegen Frankreichs Arbeitslosenquote, die hartnäckig bei zehn Prozent liegt und damit mehr als doppelt so hoch wie in Deutschland. Unternehmen sollten mehr Flexibilität erhalten, um mehr Jobs schaffen zu können. Betriebsbedingte Kündigungen, die heute häufig nur mit horrenden Abfindungen möglich sind, sollten erleichtert werden, um die Hemmschwelle für Einstellungen zu senken. Eine französische Agenda 2010 sozusagen, wenn auch erheblich softer als das deutsche Vorbild. Aber selbst davon ist nach wochenlangem Streit so gut wie nichts übrig geblieben. Trotzdem verlangen die Gewerkschaften und der linke Flügel der Sozialisten, dass der verwässerte Kompromiss ersatzlos gekippt wird. Hollande indes beharrt darauf, das nutzlos gewordene Gesetz, das inzwischen drei Viertel der Franzosen ablehnen, notfalls mit parlamentarischen Tricks durchzupauken.

Hollande gilt den Franzosen heute als schlechtester Präsident aller Zeiten. Trotzdem signalisiert der 61-jährige Sozialist, dass er sich 2017 zur Wiederwahl stellen will - und unterstreicht damit den bösen Eindruck vieler Franzosen, dass sich ihre Politiker ohnehin nur ihren persönlichen Interessen verpflichtet fühlen. Der Verhältnis zwischen Volk und politischer Klasse ist längst völlig zerrüttet: Nur knapp zwölf Prozent der Franzosen haben noch Vertrauen in die Parteien. 80 Prozent sind dagegen zutiefst enttäuscht oder empfinden sogar Abscheu und Hass. Drei Viertel haben die ideologischen Lagerkämpfe zwischen Linken und Rechten gründlich satt und wünschen sich eine pragmatische Zusammenarbeit.

Die wäre bitter nötig, um dem Land endlich wieder eine Perspektive zu bieten, die seinem Potenzial entspricht. Die Zeit drängt. Frankreich ist das einzige große Industrieland, das noch keine ernsthafte Reform seines Wirtschafts- und Sozialmodells begonnen hat. Im Wahlkampf 2012 hatte François Hollande seinen Landsleuten sogar noch weisgemacht, das sei auch gar nicht nötig. Erst nach zweieinhalb Jahren Amtszeit besann er sich eines Besseren - und gilt seither vielen Linken als Verräter.

Dabei signalisieren die Franzosen in Umfragen durchaus Verständnis für strukturelle Reformen. Das schließt Proteste zwar nicht aus, wenn es dann ernst wird, aber die Blockade kommt in Frankreich weniger von unten als von oben. Der französische Ökonom Nicolas Baverez weist darauf hin, dass ausgerechnet der Staat, der in Frankreich historisch immer als Motor der Modernisierung aufgetreten ist, sich in den größten Hemmschuh verwandelt hat. Das belegt auch die Protestbewegung dieser Tage wieder: Der Widerstand gegen die Reformpläne wird überwiegend im öffentlichen Dienst, in Staatsunternehmen und an den Universitäten organisiert. Dort sitzen jene, die sich an den Status quo klammern und an die irreale Vorstellung, dass die Globalisierung schon irgendwie an den Palisaden des gallischen Dorfs abprallen wird.

Aber es gibt auch ein anderes, ein weltoffeneres Frankreich, dessen Bewohner sehr wohl begriffen haben, dass nicht alles so bleiben kann wie bisher. Dass der französische Sozialstaat in seiner jetzigen Form nicht mehr finanzierbar ist. Dass sich etwas ändern muss im Verhältnis zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern, das immer noch von vorgestrigen Klassenkampfparolen geprägt ist. Die Veränderung findet bereits statt, und zwar hinter der verkrusteten Fassade des alten Systems, in dem Stillstand herrscht. Ohne auf Politik und Gewerkschaften zu warten, haben sich in Tausenden Betrieben Belegschaft und Firmenleitung zusammengerauft, um die Arbeit flexibler zu organisieren. Eine dynamische Start-up-Szene beweist, dass französische Unternehmen den digitalen Wandel längst erfolgreich nutzen. Und in Umfragen geben viele junge Franzosen heute nicht mehr einen Job im Staatsdienst als Lebenstraum an, sondern die Gründung eines eigenen Unternehmens.

Frankreich wäre fähig, sich zu erneuern, aber dafür muss der nächste Staatschef das zerrissene Land einen und wohl auch eine Reform der politischen Kultur einleiten: weg vom präsidialen Personenkult, hin zu mehr echtem Parlamentarismus. Raus aus der Links-Rechts-Konfrontation und hin zu einer Kultur des Kompromisses. Es steht viel auf dem Spiel im Wahljahr 2017: Versagt das politische System der Fünften Republik erneut, blockieren sich Sozialisten und Konservative danach weitere fünf Jahre in Grabenkämpfen, könnte 2022 die Machtergreifung durch Marine Le Pen und ihren rechtsextremen Front National nicht mehr abzuwenden sein. Und was dies für Frankreich, aber auch für Deutschland und Europa bedeuten würde, mag man sich lieber nicht ausmalen.

(RP)
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