Analyse G 8 - das sagen die Schulleiter

Düsseldorf · Sollten die Gymnasien in Nordrhein-Westfalen wieder in neun statt in acht Jahren zum Abitur führen? Auch die Schulleiter sind sich in der Frage nicht einig. Die Abwägung führt sie in eine ganze Reihe von Zwickmühlen.

Wenn in gut drei Wochen Sylvia Löhrmann zum "Runden Tisch" in ihr Schulministerium lädt, dann richten die Gymnasialdirektoren in NRW ihre Blicke nach Düsseldorf — viele beunruhigt bis genervt, einige hoffnungsvoll. Denn am 5. Mai geht es um die gymnasiale Schulzeitverkürzung von neun auf acht Jahre, landläufig als "Turbo-Abitur" bekannt und oft mit "G 8" abgekürzt. Weil mehrere Bundesländer beim G 8 die Rolle rückwärts machen und den Gymnasien Wahlfreiheit gewähren wie Hessen oder gleich komplett zum neunjährigen System (G 9) zurückkehren wie Niedersachsen, steht Löhrmann unter Druck — Eltern- und Schülerinitiativen wollen das Turbo-Abitur kippen. Es mache Kinder durch zu viel Stress krank und raube ihnen die Freiheit, argumentieren sie. Umfragen ergeben Zweidrittelmehrheiten gegen G 8.

Wer die Schulleiter fragt, wie unsere Zeitung das getan hat, der erhält, positiv formuliert, ein sehr differenziertes Bild. Weniger positiv formuliert: Die Zwickmühlen, in denen die Gymnasien stecken, sind vielfältig. Fünf Beispiele.

Das neue G 9 ist nicht das alte G 9. Viele Schulleiter reagieren schon allergisch, wenn man sie auf eine "Rückkehr" anspricht. Denn sie wissen: Das alte G 9 gibt es nicht mehr. Daher entschlossen sich beim einmaligen Schulversuch 2011 nur 14 von rund 600 Gymnasien in NRW für die Wiedereinführung eines neunjährigen Systems. Die Stundenbelastung bei diesem "neuen G 9" ist nämlich höher als im "alten G 9" vor der Umstellung, auch die zweite Fremdsprache setzt schon in Klasse sechs statt in Klasse sieben ein. Ein weiterer Grund für die geringe Resonanz sei gewesen, sagt ein Schulleiter aus dem Rhein-Kreis Neuss, dass die Schulen über G 8 und G 9 hätten entscheiden sollen, als die Umstellung auf das achtjährige System noch gar nicht abgeschlossen war.

Es gibt keine verlässliche Datenbasis über die Effekte von G 8. Ob das Turbo-Abi Schüler überlastet, ist bisher nur subjektiv zu beantworten — wissenschaftliche Studien gibt es kaum. Gegner verweisen auf Online-Umfragen unter Eltern, Unterstützer auf Eindrücke aus dem Schulalltag. "Sicher ist, dass G 8 nicht die Wurzel allen Übels ist", sagt etwa einer aus dem Kreis Kleve und spottet: "Auch schlechtes Wetter lässt sich vermutlich statistisch auf das Turbo-Abitur zurückführen." Kerstin Abs vom Marie-Curie-Gymnasium in Düsseldorf ergänzt: "Es hat sich gezeigt, dass die zu vermittelnden Kompetenzen sehr gut in acht Jahren zu erwerben sind." Allerdings müsse der Lehrplan schlanker werden. "Ein neuntes Schuljahr mit 13 Fächern — das ist Wahnsinn", sagt ein Schulleiter aus dem Kreis Wesel, obwohl G 8-Befürworter.

Klagen über G 8, ist immer wieder zu hören, kämen öfter von Eltern als von Schülern — was in manchem Direktorenzimmer zu Gereiztheit führt. "Die Schüler haben keine Probleme, sie kennen Schule nicht anders", heißt es etwa aus einem Gymnasium im Kreis Mettmann: "Was also soll das Gejammer? Erst schicken rund 40 Prozent aller Eltern ihre Kinder ins G 8, und dann heulen sie, ihre Kleinen seien überfordert?" Die nackten Zahlen legen jedenfalls keinen Leistungseinbruch nahe: Die "Turbo-Abiturienten" erreichten im Doppeljahrgang 2013 sogar einen minimal besseren Schnitt als die G 9er. Und die Uni Duisburg-Essen bescheinigte ihnen jüngst die gleiche Studienfähigkeit.

Die Entscheidung für G 8 war nicht pädagogisch begründet. "Diese Reform war Finanz- und Wirtschaftsinteressen geschuldet", schimpft ein Schulleiter vom Niederrhein. Tatsächlich hieß es vor einem Jahrzehnt, deutsche Berufsanfänger seien relativ alt und damit im Nachteil. Das Argument freilich hat mit der Bologna-Reform, dem Ende der Wehrpflicht und der Vorziehung der Einschulung an Gewicht verloren. So sagt Roland Loos, Leiter des Ratinger Kopernikus-Gymnasiums und selbst Quereinsteiger aus der Wirtschaft: "Ob die Argumente aus der Praxis zwingend sind, wage ich zu bezweifeln." Höheres Alter bedeute mehr Reife und damit "eine zusätzliche Dimension in der Wissensvermittlung". Johannes Gillrath vom Knechtstedener Norbert-Gymnasium sagt es so: "Die beste Zeit beginnt im zweiten Halbjahr der Elf. Da wächst der Geist." Das eine Jahr fehle am Ende in der Entwicklung der G 8er.

Wahlfreiheit ist nicht unbedingt eine Hilfe. Viele Schulen fürchten eine Freigabe der Entscheidung. Das stellt einen Löhrmann'schen Grundsatz infrage — Schulpolitik gemäß der Nachfrage vor Ort. Ein Schulleiter aus dem Rhein-Kreis sieht die Konsequenz einer Wahlfreiheit in der Alternative ",Elitegymnasium' oder wahres Gymnasium mit G 8 versus ,Restschule' bzw. verkappte Gesamtschule mit G 9". Die oft gehörte Sorge lautet: Freigabe gleich Zersplitterung gleich zerstörerische Konkurrenz zwischen G 8- und G 9-Schulen. Geradezu entsetzt reagieren viele Schulleiter auf die Frage, ob beide Systeme parallel an einer Schule möglich seien: Das sei an Schulen mit weniger als 1500 Schülern unmöglich, schätzt ein Direktor. Das durchschnittliche NRW-Gymnasium hat gut 900. Sympathien gibt es dagegen für die Idee, einzelnen Schülern das Überspringen von Klassen zu erlauben.

Fazit: Trotz schwerer Bedenken gegen G 8 sind viele Schulleiter gegen eine Rückkehr zu G 9. Das ist vielerorts das Grund-Dilemma. "Es gibt kaum jemanden, der die überstürzte und kaum vorbereitete Einführung von G 8 seinerzeit als gelungen erachtete", sagt ein Schulleiter aus dem Kreis Kleve, fügt aber hinzu: "Ein erneuter Wechsel zu G 9 nach gerade zwei Jahrgängen erscheint mir haltlos." Schulleiter Loos aus Ratingen sagt: "Bildungsarbeit lebt bei allem Respekt vor notwendiger Innovation von Kontinuität." Es gibt freilich auch Kollegen, die deutlicher formulieren und schimpfen, die neue Diskussion sei "zum Abgewöhnen" oder gleich "die unsinnigste aller Wahnsinns-Debatten der letzten Jahre". Eine Schulleiterin vom Niederrhein fasst ihren Wunsch in einen Satz, in dem man den Seufzer geradezu mithört: "Auch die Schulform Gymnasium braucht Schulfrieden."

(RP)
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