Analyse Gabriel im Nahkampf

Ingelheim/Rheinland-Pfalz · Eigentlich hatte Sigmar Gabriel eine Sommerreise nach Rheinland-Pfalz geplant, um sich über die Auswirkungen der Gesundheitspolitik zu informieren. Doch das Flüchtlingsproblem verfolgt ihn auf Schritt und Tritt.

Alaa ist 23 Jahre alt, sie kommt aus Damaskus in Syrien. Zwei Wochen lang war sie auf der Flucht, schaffte es mit ihren Eltern und zwei weiteren Verwandten über die Türkei nach Deutschland. Jetzt steht die kleine Frau mit Kopftuch inmitten der Menschenmenge, die sich im Erstaufnahmelager in Ingelheim um den Vizekanzler gebildet hat. Irgendwie rutscht sie in die erste Reihe. Sigmar Gabriel, der heute als SPD-Chef in die rheinland-pfälzische Provinz gekommen ist, spricht sie auf Englisch an. Er will wissen, seit wann sie in Deutschland ist. Seit neun Tagen entgegnet Alaa, in besserem Englisch als er. Sie sei glücklich, hier zu sein. Probleme mit anderen Volksgruppen im Lager habe sie bisher nicht gehabt - auch wenn klar ist: Alaa wird wohl in Deutschland bleiben können. Die zahlreichen Menschen vom Westbalkan, meist Albaner, die sich auch um Gabriel scharen, dürften hingegen abgewiesen werden. Wenige Meter entfernt von der hohen Mauer eines Abschiebegefängnisses sagt ihnen Gabriel das heute ins Gesicht.

Er ist wieder einmal im Nahkampfmodus. Wie schon so oft in den vergangenen Tagen und Wochen geht Sigmar Gabriel auf Tuchfühlung in den Flüchtlingsheimen, zeigt Verständnis und Kante. Kein anderes Thema treibt ihn derzeit so um. Es überlagert daher diese Sommerreise in Rheinland-Pfalz, die er schon vor langer Zeit gemeinsam mit der wahlkämpfenden Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) geplant hatte. Die Gesundheitspolitik sollte eigentlich für zwei Tage im Fokus stehen, Gabriel wird seine Partei im Bundestagswahlkampf 2017 wohl unter anderem darauf ausrichten und betont häufig die gesellschaftlichen Probleme etwa bei der Vereinbarkeit von Pflege und Beruf. Um ihm politische Rückendeckung zu geben, ist auch der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach angereist. Und Dreyer soll glänzen dürfen bei den Terminen in Pflegeeinrichtungen und Krankenhäusern. Ihr Rheinland-Pfalz mache vieles richtig, sei ein Vorbild, das ist die gewollte Botschaft der zwei Tage.

Aber das Flüchtlingsproblem ist allgegenwärtig, und Gabriel nimmt es persönlich. Kurzfristig wurde der Termin in Ingelheim ins Programm geschoben. Egal ob in Fraktionssitzungen oder bei Gesprächen zwischendurch, Gabriel redet viel über die Probleme mit der Flüchtlingswelle - in Berlin und der gesamten Republik. Er stellt systematisch Fragen an diejenigen, die damit jeden Tag kämpfen müssen. Von ihnen bekommt er nicht nur in Ingelheim zu hören, dass man vor allem mehr Personal für die Außenstellen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge brauche.

Gabriel ist zum Thema Flüchtlinge auf allen Kanälen, setzt indirekt die Kanzlerin unter Zugzwang. Und als Rechtsradikale im sächsischen Heidenau vor einer Woche in zwei aufeinanderfolgenden Nächten mit aller Brutalität und ohne Scham gegen Flüchtlinge und ein geplantes Heim hetzten und mehr als 30 Polizisten verletzten, fand Gabriel die deutlichsten Worte. "Rechtes Pack", das eingesperrt gehört. Ob das taktisch klug war, fragt sich Gabriel im Gegensatz zu Angela Merkel (CDU) nicht. Es scheint ihm egal, ihm geht es nach eigenen Angaben um Haltung. Prompt wurde die Zentrale seiner Partei mit hasserfüllten E-Mails und Anrufen überschüttet, das Willy-Brandt-Haus musste sogar wegen einer Bombendrohung geräumt werden.

Der SPD-Chef lässt sich davon nicht beeindrucken und fährt mittlerweile eine Doppelstrategie. Er wirbt für die Willkommenskultur, mahnt aber auch Ehrlichkeit für hoffnungslose Fälle an. Als er einen der Albaner in Ingelheim fragt, ob er denn nicht wisse, dass sein Asylantrag aller Voraussicht nach abgelehnt werde, steht dem Mann Wut ins Gesicht geschrieben. Gabriel muss es aushalten. Auch Malu Dreyer, die in dem Getümmel neben Gabriel steht und um einen freundlichen Ton bemüht war, muss es aushalten. Später sagt Gabriel aber in die Kameras der angerückten Fernsehteams: "Wir sind als Sozialdemokraten der Überzeugung, dass wir auch denen, die aus dem westlichen Balkan über das Asylsystem versuchen zu uns zu kommen, eine Alternative ermöglichen können." Er erinnert an die einstigen Gastarbeiter aus dem ehemaligen Jugoslawien und kündigt an, sich dafür einsetzen zu wollen, dass Menschen etwa aus Albanien mit dem Nachweis eines gültigen Arbeitsvertrages künftig auch legal nach Deutschland kommen sollten. Mit seiner gewerkschaftsnahen Basis im Nacken fügt Gabriel aber noch hinzu: "Die Voraussetzung ist allerdings, dass die Arbeit zu Bedingungen stattfindet, die bei uns gesetzlich vorgeschrieben sind." Was er nicht wolle, seien "Dumpinglöhne" und "Billigarbeitskräfte", die dann den Wettbewerb in Deutschland verschärfen.

Gabriel weiß, dass er in der Flüchtlingspolitik bei den Wählern punkten kann. Denn die überwiegende Mehrheit in Deutschland ist dafür, Menschen Schutz vor Verfolgung und Krieg zu bieten. Und viele empfanden das Zögern der Kanzlerin, sich klar gegen die Ausschreitungen in Heidenau zu stellen, als unerträglich. Gabriels Umfragewerte sind verglichen mit denen der Kanzlerin und des Außenministers Frank-Walter Steinmeier (SPD) schlecht. Und die Werte der SPD kommen nicht aus dem Dauertief von 25 Prozent heraus.

Gefahrlos ist das Unterfangen für den Vize-Kanzler aber nicht. Denn die Verunsicherung wächst auch bei bisher aufgeschlossenen Bürgern, wenn ein Flüchtlingsheim in der Nachbarschaft aufmacht, und vor allem junge Männer aus zig Krisenregionen dieser Welt auf engstem Raum dort leben müssen. Der Verlockung nachzugeben, die Flüchtlingsproblematik parteipolitisch zu nutzen, wäre also brandgefährlich. Gabriel bleibt nur der besonnene Nahkampf.

(jd)
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