Analyse Gegen Angst hilft Arbeit

Berlin · Der ungebremste Flüchtlingszuzug schürt in der Bevölkerung Konkurrenz- und Verlustängste. Bürger befürchten steigende Sozialabgaben. Eine schnelle Arbeitsmarktintegration der Migranten kann beruhigen.

Glauben wir dem aktuellen ARD-Deutschlandtrend, so hat innerhalb weniger Wochen in den Herzen und Köpfen vieler Deutscher die Angst gegenüber der Zuversicht die Oberhand gewonnen. Ende September bekannten 51 Prozent der Befragten, dass es ihnen Angst mache, dass so viele Flüchtlinge nach Deutschland kommen. Anfang September waren es erst 38 Prozent. Die Skepsis ist umso größer, je geringer das Haushaltseinkommen ist und je niedriger auch der Bildungsstand.

Die Umfrageergebnisse überraschen nicht, denn die Zahl derer, die Deutschlands südliche Grenze täglich überqueren, ist hoch. Im September kamen so viele wie noch nie in einem Monat nach Deutschland - voraussichtlich über 250.000 Menschen. Für das Gesamtjahr rechnen die Behörden mit einer Million Flüchtlingen. Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD) sieht die Kapazitätsgrenzen schon jetzt fast erreicht, doch der Strom reißt nicht ab.

Wen das nicht beunruhigt, der muss schon besonders starke Nerven haben. Sorgen und Ängste über diese Veränderungen, die sich oft in unserer unmittelbaren Umgebung abspielen, sind menschlich, nachvollziehbar und insofern auch notwendig, weil sie die Entscheider vor Ort, in Berlin oder Brüssel zu politischen Reaktionen zwingen.

Da mit den Flüchtlingen die Armut nach Deutschland kommt, sehen viele jetzt wieder Verteilungskämpfe voraus, von denen man nach Einführung des Mindestlohns und angesichts der demografischen Entwicklung eigentlich geglaubt hatte, sie seien für immer passé. Hunderttausende Migranten drängen auf den Wohnungsmarkt, auf den Arbeitsmarkt, in die Schulen, Kitas, Kliniken und in die Wartezimmer der Arztpraxen. Sie brauchen bezahlbare Wohnungen, also geförderte Sozialwohnungen, die ohnehin knapp sind. Viele werden Billigjobs annehmen müssen. Schulen werden Klassen zumindest vorübergehend vergrößern müssen. Das Gleiche gilt für die Kindertagesstätten. In den Job-Centern werden sich Vermittler weniger um Langzeitarbeitslose kümmern können.

Ein Teil der Flüchtlinge - Umfragen zeigen, dass es etwa ein Drittel sind - kommt ohne Schul- oder Berufsausbildung nach Deutschland. Viele der Ankommenden sind Analphabeten oder nicht in der Lage, unsere Buchstaben zu lesen. Dass Hunderttausende dauerhaft von Sozialleistungen abhängig sein werden, steht zu befürchten. Wer ein gutes Einkommen hat, sorgt sich also eher über steigende Abgaben als vor neuen Konkurrenten.

Verlustängste und Sozialneid können latent ausländerfeindliche Haltungen befördern, müssen es aber nicht. Vizekanzler Gabriel hat recht, wenn er sagt, Menschen müssen ihre Ängste artikulieren können, ohne gleich als rassistisch oder ausländerfeindlich eingestuft zu werden. Viel hilft schon, wenn Politiker wie Gabriel die Ängste der Bevölkerung aufgreifen und ernst nehmen. Noch mehr aber hilft Aufklärung über das, was voraussichtlich wirklich am Arbeitsmarkt und im Sozialsystem passieren wird: Befürchtungen über massive Job-Konkurrenz oder spürbar steigende Integrationskosten sind sehr wahrscheinlich übertrieben. Die deutsche Einheit hat Westdeutsche in den vergangenen 25 Jahren netto etwa 1,5 Billionen Euro gekostet, aber hat es wirklich wehgetan? Viele haben es nicht einmal gemerkt. Die Integrationskosten heute werden ein Bruchteil davon ausmachen.

"Zwei zentrale Argumente werden vorgebracht, wenn Bürger ihre Ängste formulieren: Vor allem, aber nicht nur Ärmere befürchten, Migranten würden ihnen die Jobs wegnehmen", sagt Herbert Brücker, Migrationsforscher am Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). "Reichere befürchten, Migranten würden sich nicht in den Arbeitsmarkt integrieren und deshalb höhere Steuern und Abgaben verursachen." Oft würden beide Argumente im gleichen Atemzug geäußert. "Das ist aber widersprüchlich: Das eine kann nur stimmen, wenn das andere nicht stimmt."

Zumindest die Erfahrungen der vergangenen Jahre, in denen Deutschland eine Flüchtlingswelle aus den Balkan-Staaten zu verkraften hatte, lehren, dass die Verdrängungseffekte am Arbeitsmarkt durch die gleichzeitige Zuwanderung einer großen Anzahl von Menschen geringer sind als allgemein angenommen - oder sogar gar nicht bestehen. "In den letzten fünf Jahren sind 1,1 Millionen neue Beschäftigungsverhältnisse von Ausländern entstanden, vor allem durch Migration. Zugleich stieg die Beschäftigungsquote aller Arbeitnehmer um fünf Prozentpunkte, die der Ausländer sogar um 6,5 Prozentpunkte", berichtet Brücker.

Auch um steigende Sozialabgaben durch die hohen Flüchtlingszahlen zu vermeiden, muss es gelingen, Migranten so schnell wie möglich in den Arbeitsmarkt zu integrieren. "Nichts trägt mehr zur Akzeptanz der Zugewanderten bei, als sie schnell in den Arbeitsmarkt zu integrieren", sagt Ulrich Maly, der Vize-Präsident des Deutschen Städtetags. "Bei der früheren Asylmigration lagen die Beschäftigungsquoten der erwerbsfähigen Flüchtlinge im ersten Jahr nach dem Zuzug nur bei acht Prozent", sagt Brücker. "Nach fünf Jahren lagen sie aber bereits bei 50 und nach 15 Jahren bei knapp 70 Prozent."

Das A und O einer richtigen Integrationspolitik sei, die Asylverfahren schnell abzuschließen. Die deutsche Sprache zu erlernen sei ebenfalls von zentraler Bedeutung. "Wir müssen die Qualifikation der Migranten feststellen und sie zertifizieren. Viele haben zwar keine Berufsausbildung auf deutschem Niveau, dafür aber jahrelange Berufserfahrung", sagt Brücker. Vor allem aber gehe es um mehr Kapazitäten in Schule und Ausbildung, denn über 50 Prozent der Zuwanderer sind unter 25, fast ein Drittel unter 16. Dem alternden Deutschland kann eigentlich nichts besseres passieren, als dass es massenweise Junge hinzugewinnt - vorausgesetzt ihre Integration gelingt.

(mar)
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