Detroit Gemüse statt Cadillac

Detroit · Farmen und Gärten hauchen der brachliegenden Industriemetropole Detroit neues Leben ein. Sie wird zum Labor für die Stadt der Zukunft.

Der Morgen ist kühl. Nur langsam erwärmt die Sonne die Luft. Tau liegt auf den Beeten und den Planen der Gewächshäuser, in denen zehn verschiedene Sorten Tomaten sowie Paprika und Kräuter wachsen. Olivia Willerer bückt sich, um die orangen Blüten von der Kapuzinerkresse zu zupfen, die überall an den Rändern des großen Gemüsegartens wuchert: "Wir legen sie als kleine Beigabe zu unseren Salatmischungen." Hinter ihr schneiden Helfer mit Scheren Salatblätter aus den Beeten: Rucola, Feldsalat, Babyspinat, Brauner Senf, Sauerampfer oder den japanischen Salatkohl Mizuna und andere asiatische Pflücksalate.

Bienen summen. Grillen zirpen. Ein Hahn kräht, Hund Watson bellt. Eine ländliche Idylle? Weit gefehlt. Wir sind mitten in Detroit, Motor City Detroit, dort wo Henry Ford einst das Fließband erfand.

"Die Salatmischung ist der Renner auf dem Markt", sagt Olivia Willerer und greift nach den nächsten Kresseblüten. Mit einem Tuch hat sie ihre neun Monate alte Tochter auf den Rücken gebunden. Anders geht es nicht. Sie und ihr Mann Greg sind vollauf mit ihrer Landwirtschaft beschäftigt. Heute ist Freitag, da muss genug geerntet werden für den Markt am Samstag. "Wir arbeiten hart, führen aber ein selbstbestimmtes Leben." Olivia Willerer richtet sich auf und wischt mit dem Ärmel über ihre schweißnasse Stirn.

Über den nahen achtspurigen Fisher Freeway rauscht der Verkehr in Richtung Downtown. Und hinter den Nachbargrundstücken ohne Häuser, auf denen Wildblumen, Weißklee und Schafgarbe wuchern und nur noch die rissigen Betoneinfahrten von ihren einstigen Bewohnern erzählen, ist die Michigan Central Station auszumachen. Die berühmteste Ruine Detroits erinnert an die Grand Central Station in New York. Als das 20 Stockwerke hohe neoklassizistische Monument zwischen 1910 und 1913 errichtet wurde, war es das höchste Bahnhofsgebäude der Welt. Detroit galt damals als Zukunftslabor. Selbst Visionäre wie der Architekt Le Corbusier kamen und staunten, vor allem aber Tausende Migranten aus dem ländlichen Süden der Vereinigten Staaten sowie aus Europa oder Südamerika. Die Autoindustrie bot gut bezahlte Jobs. Die Stadtplaner bauten breite Straßen, Art-Déco-Wolkenkratzer und großzügig angelegte Siedlungen für zwei Millionen Menschen. Heute leben hier keine 700 000 mehr. In einigen Vierteln ist jeder Zweite ohne Job. Das Durchschnittseinkommen liegt weit unter der Armutsgrenze.

Der lange Niedergang setzte nach dem Zweiten Weltkrieg ein und fand seinen Höhepunkt in der Bankrotterklärung der Stadtverwaltung 2013. Abgesehen von einigen wenigen Hauptverkehrsadern wie dem Fisher Freeway, sind Detroits breite Straßen heute leer. Schwarze Eichhörnchen laufen über den löchrigen Asphalt, selten gestört von anderen Verkehrsteilnehmern. Manche Stadtviertel sind fast unbewohnt, viele der leeren Häuser ausgebrannt, die Grundstücke von Rankpflanzen und Schilf überwuchert, wie auch die zahllosen Industriebrachen. Kojoten, Rehe und Waschbären sind keine Seltenheit in dem Stadtgebiet voller ungeplanter Biotope. Wie in einer Metropole nach dem Weltuntergang.

Der Niedergang eröffnet aber nicht nur Freiräume für die Natur: Künstler, Musiker, Studenten oder junge Unternehmer finden in Detroit ihren Abenteuerspielplatz. Sie kaufen Häuser und Grundstücke für wenige Hundert Dollar, mieten preiswerte Büros oder ziehen einfach so ein. Das öffnet Räume für Experimente, weit über die individuelle Lebensgestaltung hinaus. Wo lässt sich besser ausprobieren, wie die Stadt der Zukunft aussehen könnte? Schließlich sind schrumpfende Städte ein Problem vieler Industrienationen.

In dem Zukunftslabor von heute spielen Gemüsegärten und Farmen wie die der Willerers eine zentrale Rolle. Warum aus der Stadt nicht wieder Land machen? Oder zumindest aus Teilen von ihr? Gärten und Farmen sind in der ehemaligen Motor City häufiger zu sehen als funktionierende Autosalons, Motels, Shopping Malls oder Tankstellen. Auf fast 2000 wird ihre Zahl geschätzt. Nachbarschaften, Kirchengemeinden, Sozialhilfeempfänger, Studenten oder Suppenküchen haben sie auf verlassenen Hausgrundstücken, Industriebrachen oder Hinterhöfen angelegt. Und so mehrere Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Die Gärten beleben ausgestorbene Straßen, durch die sich kaum noch jemand getraut hat, sie geben Menschen Beschäftigung, versorgen sie in einer Stadt ohne Gemüseläden und Supermärkte mit frischen Lebensmitteln, bieten Naherholung und Kontakt zur Natur für die vielen Detroiter ohne Auto und bringen die Bewohner der Viertel wieder miteinander in Kontakt. Rettet also ausgerechnet der Trend des "Urban Gardening" die einstige Autostadt?

"Ich bin in dieser Stadt aufgewachsen und kann einfach nicht weggehen", sagt Quincy, einer der Helfer bei Olivia und Greg Willerer. Ein- bis zweimal in der Woche arbeitet der Erwerbslose auf der Farm und lässt sich dafür in Lebensmitteln auszahlen. "Meine Frau liebt das frische Basilikum, das ich immer mitbringe, und ich lerne hier viel für meinen eigenen Garten, den ich hinter unserem Haus in East Detroit anlegen will." East Detroit ist eine der verlassensten Ecken der Stadt. Nachts wird es hier stockdunkel. Licht spenden nur die bunten Neonreklamen der rund um die Uhr geöffneten Liquor Stores. Neben Bier und Schnaps verkaufen sie Chips, Waschpulver oder Fertigpizzen. Wie die zahlreichen Freikirchen, die in alten Lagerhallen oder Ladengeschäften residieren, scheinen sie die letzten funktionierenden Geschäfte der Stadt zu sein.

Auch in Corktown sieht es nicht viel besser aus. Wann die verrosteten Straßenlaternen in ihrem Viertel das letzte Mal funktionierten, wissen Olivia und Greg Willerer nicht mehr. "Die Stadt kümmert sich einen Dreck darum." Greg Willerers Augen funkeln: "Wir nehmen hier alles selbst in die Hand." Willerer trägt einen grauen Dreitagebart und eine blaue Latzhose, an der noch frische Erde klebt. Er ist in einem Vorort von Detroit aufgewachsen. 2001 zog er in die Stadt und kaufte wenig später ein Haus von einem alten Ehepaar, das wegzog - wie so viele andere. Rund um das 1905 gebaute Holzhaus mit der abgeblätterten Farbe hat Willerer einige brachliegende Grundstücke vom Müll befreit und in Anbauflächen verwandelt. "Ich habe einfach die Nachbarn gefragt und losgelegt. Im Gegenzug versorge ich sie mit Kompost oder Gemüse."

Vor fünf Jahren hat Willerer seinen Job als Lehrer aufgegeben. Seitdem lebt die kleine Familie von ihrer Stadtfarm. Fast 90 solcher "Marketgardener" gibt es mittlerweile in Detroit. Aber selbst ein so erfolgreicher wie Greg Willerer, der als "Brother Nature" (Natur-Bruder) stadtbekannt ist, muss im Winter zusätzlich Geld mit Schneeräumen verdienen. Aber es geht Willerer und den vielen anderen um mehr als den Lebensunterhalt: "Wir müssen uns von der industriellen Nahrungsmittelproduktion befreien, von dem staatlich geförderten Anbau von Monokulturen und dem ungesunden Essen."

Viel Öko-Idealismus also, aber das Ganze hat durchaus Potenzial. Nach einer Studie der Michigan State University könnte Detroit mit Stadtfarmen, Nachbarschaftsgärten und Gewächshäusern drei Viertel seines Gemüses und 40 Prozent seines Obstes selbst produzieren. Die Forscher machten mithilfe von Luftaufnahmen und städtischen Grundstücksdaten über 44 000 freie Parzellen mit einer Fläche von fast 2000 Hektar aus - mehr als die Innenstadt von Köln.

(RP)
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