Le Vernet "Die Angehörigen haben geschrien"

Le Vernet · Die Hinterbliebenen der Opfer des Germanwings-Absturzes sind an die Stelle in den Alpen gereist, wo der Airbus A 320 zerschellte. Für die Familien ist die Reise nach Frankreich besonders schmerzlich, seit das Drama im Cockpit bekannt ist.

Es ist eine lange Reihe der Trauer, die sich vor dem wolkenverhangenen Gipfel des Pic d'Estrop mit seinen 2691 Metern formiert. Rund 200 Angehörige sind in Bussen nach Le Vernet gekommen, um von den Opfern des Germanwings-Absturzes Abschied zu nehmen. Auf der Rückseite des Berges liegt die Stelle, an der der Airbus A 320 mit 150 Menschen an Bord am Dienstag zerschellte - bewusst von dem Copiloten in die Felsen gesteuert. Rund 70 Deutsche treffen aus Düsseldorf mit einer Sondermaschine der Lufthansa in Marseille ein und fahren dann in Bussen weiter. Auch die Familie des Copiloten ist unter den Angehörigen - allerdings streng getrennt von den anderen Trauernden. Für die Angehörigen der Crew-Mitglieder soll es eine zweite Zeremonie im zehn Kilometer entfernten Seyne-les-Alpes geben.

Viele Angehörige erfahren erst nach ihrer Ankunft in der südfranzösischen Hafenstadt vom Ausmaß des Dramas, das sich am Dienstag im Cockpit ereignet hatte. Der Staatsanwalt von Marseille, Brice Robin, informierte die Familien am Morgen im Detail. Dabei liest er auch die Bordprotokolle des Todesfluges 4U 9525 vor, so dass die Familien nun genau wissen, was in den letzten dramatischen Minuten passierte. Auch über das traurige Thema der DNA-Analyse spricht er. Die Familien mussten Zahnbürsten mitbringen, um den Experten die schwierige Arbeit zu erleichtern.

"Zunächst waren die Angehörigen sehr ruhig, sehr gefasst. Als dann der Staatsanwalt kam, um sie zu informieren, haben sie ihm jede Menge Fragen gestellt. Sie wollten wissen, ob ihre Angehörigen leiden mussten. Sie waren wie versteinert", schildert ein Dolmetscher seine Eindrücke. Als die Angehörigen dann aber erfahren hätten, dass es sich um eine vorsätzliche Tat des Copiloten gehandelt hat, seien einige von ihnen zusammengebrochen. "Es wurde geschrien. Es war sehr hart für die Angehörigen und für uns auch."

Marseille ist die erste schmerzliche Station, die die Angehörigen durchmachen. Le Vernet heißt die zweite. Dort treffen die Familien streng abgeschirmt in sieben Bussen ein, begleitet von Polizeimotorrädern und zahlreichen Sanitätern. Neben dem Hotel "Domaine le Vernet" halten Gendarmen die Flaggen der Länder, aus denen die Opfer kommen. Auch eine Gedenkplakette soll dort in einer kleinen Zeremonie eingeweiht werden, am Absturzort auf der Rückseite des Pic d'Estrop ist das nicht möglich.

Das unwegsame Gelände, in dem sich kleine Bruchstücke des abgestürzten Airbus über eine weite Fläche verteilen, ist für die Familien nicht zugänglich. "Das wäre zu gefährlich", sagt Serge Gonteyron von der Präfektur in Aix-en-Provence. Nur mit dem Hubschrauber oder nach langem Fußmarsch kann die Stelle erreicht werden, wo Hunderte Trümmerteile über mindestens zwei Hektar verteilt sind.

Die Ermittler des Germanwings-Absturzes haben mit dem schwer zugänglichen Gelände zu kämpfen. "Die Arbeit ist extrem schwierig, das Gelände ist gefährlich. Es ist steil und rutschig", sagt der Chef der Bergrettungskräfte, Olivier Cousin. 70 Menschen sind an der Unglücksstelle im Einsatz. Zwölf Ermittler sind unterwegs, um die Spuren zu sichern und die zweite Blackbox zu finden. Etwa sechs weitere suchten die Leichen. Die Ermittler werden von erfahrenen Bergrettern an einem Seil gesichert. Sie sind mit Steigeisen und Eispickel unterwegs.

"Dort ist es sehr steil, und der Weg dorthin ist riskant. Vor allem, weil jetzt noch Schnee liegt", sagt Gilbert Rey vom Alpenverein in Seyne-les-Alpes. Er ist gestern zusammen mit seiner Frau Madeleine nach Le Vernet gekommen. "Wir wollen unsere Solidarität mit den Familien zeigen", sagt das Rentnerpaar. Doch die Angehörigen bekommen die beiden nicht zu Gesicht, denn das Gelände um das Hotel ist weiträumig abgesperrt. Der Betrieb in dem Berghotel ist eingestellt. Die Gäste müssen ihre Zimmer räumen, um die Angehörigen in ihrer Trauer allein zu lassen. Weiße Vorhänge vor den Fenstern sollen die Privatsphäre im Andachtsraum gewährleisten, in dem sich am Mittwoch bereits Bundeskanzlerin Angela Merkel und der französische Präsident François Hollande in ein Kondolenzbuch eingetragen haben.

Die zehnjährige Célia hat das alles aus wenigen Metern Entfernung gesehen. Sie wohnt in einer der Holzhäuschen neben dem Hotel. Zusammen mit ihrer Schwester Emily geht sie in die Grundschule, die direkt hinter dem Hotel liegt und nur neun Schüler hat. Doch gestern gab es keinen Unterricht; der Klassenraum und die Gemeindebibliothek wurden evakuiert. "Für die Kinder ist das alles schockierend", sagt die Mutter der beiden Mädchen.

Gegen 18 Uhr haben die Angehörigen dann ihre dritte Station erreicht: Seyne-les-Alpes. Im Jugendzentrum warten Psychologen, um die Trauergruppe, zu der auch rund 70 Spanier gehören, nach ihrem schwierigen Tag zu betreuen. Menschen, die nicht in den kleinen Bau passen, werden in Zelten untergebracht. Auch ein Andachtsraum ist im ersten Stock eingerichtet. Die rührige Gemeinde mit ihren 1400 Einwohnern hat auch freiwillige Übersetzer organisiert, vor allem Deutsch- und Spanischlehrer aus der Region.

Das Bergdorf sieht sich seit Dienstag einem Massenansturm von Polizisten, Feuerwehr, Journalisten und Politikern ausgesetzt. Denn von dem französischen Dorf aus starten die Hubschrauber in das Absturzgebiet. In dem Ort liegen auch die ersten sterblichen Überreste, die seit Mittwochnachmittag von der Absturzstelle geborgen wurden. Sie sollen laut Gendarmerie später in Marseille und Paris identifiziert werden.

Rund 400 Betten stehen in Seyne-les-Alpes und im eine Autostunde entfernten Digne-les-Bains für die Familien bereit, die in der Region bleiben wollen. Die meisten Familien wollen aber schnell nach Düsseldorf zurückfliegen. Vor Ort haben sie genug Schmerzvolles erlebt.

(RP)
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