Mailand Gestrandet auf dem Weg ins reiche Europa

Mailand · Zehntausende Flüchtlinge wollen über Italien nach Deutschland. Die Behörden sind überfordert, die Gesetze realitätsfremd.

Man erkennt sie an der Langeweile und am scheuen Blick. Sie sitzen da und rauchen, kaum als Flüchtlinge erkennbar. Einer neben dem anderen, auf einer steinernen Bank im Mailänder Hauptbahnhof. Unter glitzernden Werbeanzeigen, die eine heile Welt versprechen, warten sie darauf, dass es irgendwie weiter geht. Noch haben sie keinen genauen Plan, nur eine einzige Idee, die längst wie Stein in ihr Gehirn gemeißelt ist: Nordeuropa. Dort wollen sie alle hin, am Besten nach Deutschland oder nach Schweden.

Die drei Männer aus Syrien sind vor ein paar Stunden mit dem Zug aus Sizilien angekommen. Kemal Fatih, Vater von drei Kindern, hat seinen Rucksack neben sich auf die Bank gestellt. Omar Dawani, der faule Zähne hat und dessen Haut sich in Schuppen von den Fingern pellt, hält eine Packung Zigaretten in der Hand. Mohammed Kelar, trägt alles, was er hat, in einer kleinen Gürteltasche. Ein Smartphone, seinen Pass und 45 Euro Bargeld.

Er ist 21 Jahre alt und hat ein Jahr Wirtschaftswissenschaften in Aleppo studiert, bevor ihn die Schergen von Präsident Baschar al Assad verhaften konnten. "Sie töten alle, die nicht für Assad sind", sagt er. Seit Ende März ist er auf der Flucht. Über Ägypten nach Libyen, von dort in einem der überfüllten Kähne über das Mittelmeer. "Ich hatte Todesangst", erzählt Mohammed. Mehrmals drohte sein Boot unterzugehen. Nach 17 Stunden im Meer griff ihn die italienische Marine auf. Ein paar Tage blieb er im Auffanglager in Syrakus, dann zog er weiter.

Jetzt sitzt er verloren in der glänzenden Bahnhofs-Wartehalle. "Ich habe keinen Plan", sagt Mohammed und schiebt sich die Sonnenbrille ins Haar. Eines Tages wolle er Familie, Heiraten, ein Kind. "Ein normales Leben eben", sagt er. "In meinem Land wurden wir wie Tiere behandelt." In der Wartehalle wird er später zumindest eine Flasche Wasser, ein U-Bahnticket und einen Platz für eine der Notunterkünfte zugewiesen bekommen. Seit die ersten Familien im vergangenen Herbst am Mailänder Hauptbahnhof ihr Lager aufschlugen, helfen Stadt und katholische Organisationen.

In ein paar Tagen soll es weiter gehen. "Taxi, Zug, irgendwie", antwortet Mohammed auf die Frage, wie er die letzte Etappe zurücklegen will. Er werde zu Allah beten, dass es klappt. Sein Vater, der noch im zerstörten Aleppo mit dem Rest der Familie verharrt, hat ihm geraten, nach Deutschland zu gehen. "Dort wirst Du wie ein König leben", hat er seinem Sohn gesagt. "Stimmt das?", will Mohammed wissen.

Wer in Mailand angekommen ist, den Marsch durch die Sahara und die Überfahrt auf den überfüllten Flüchtlingsbooten überlebt hat, der ist schon fast am Ziel. Mailand ist derzeit Europas größter Umschlagplatz für die Ware Mensch. Schlepperbanden, oft sind es Ägypter oder Tunesier, organisieren nicht nur die Überfahrt, sondern auch den Transport über Land. Sie wissen, wo sie ihre Kunden finden. Nachts, in den Straßen in der Nähe der Notunterkünfte, warten sie auf die Flüchtlinge. Dann wird gefeilscht. 5000 Euro für die ganze Familie im Auto bis Stockholm. 700 Euro kostet ein einfacher Trip auf die andere Seite der Alpen.

Im Oktober war ein mit mehr als 350 Flüchtlingen überfüllter Kutter vor der Insel Lampedusa gesunken. Kurzzeitig sorgte die Katastrophe für Empörung in der Öffentlichkeit. Seither holt die italienische Marine die überfüllten Boote schon 30 bis 40 Meilen vor der von Banden beherrschten libyschen Küste ab. Die Überfahrt ist deshalb aber nicht sicherer geworden. Die Schlepper stapeln seither noch mehr Menschen als sonst auf den Booten. Diese sind immer weniger für eine Überfahrt geeignet, Kähne ohne Kiel oder unstabile Schlauchboote. Sogar am Benzin können die Menschenhändler sparen, denn sie wissen, eines der fünf Marine-Boote ist immer in der Nähe. Das ist der zynische Beigeschmack dieser humanitären Operation namens "Mare Nostrum", die Italien jeden Tag 300 000 Euro kostet.

Auch Abdullah Osman aus Gambia kam von Libyen übers Meer. Er sah seinen Freund ertrinken, dreimal drohte das mit 125 Menschen überfüllte Schlauchboot zu kentern. Seit einem Monat sitzt der 17-Jährige in der Kleinstadt Augusta auf Sizilien fest. Hier legen die Marine-Schiffe alle paar Tage an und spucken im Meer aufgesammelte Menschen-Ladungen aus, manchmal über 1500 Flüchtlinge auf einmal.

"Zona Paradiso" heißt das Viertel, in dem Abdullah mit anderen 150 jungen Männern in einem baufälligen Schulgebäude untergekommen ist. Die Gemeinde hat hier eine Notunterkunft eingerichtet. Vom Paradies, das auch Abdullah sich versprach, ist hier kaum eine Spur. Die Jungen schlafen auf Pritschen, der Boden klebt und ist mit Essensresten übersät. Manche der Jugendlichen sind erst 13 oder 14 Jahre alt, sie bekommen von der Gemeinde zu Essen und retten sich mit einem Fußball über die Zeit. Ein paar Jungs aus den Mietskasernen der Umgebung haben Freundschaft geschlossen mit den Flüchtlingen. Es gibt Familien in der Gegend, die als Tutoren Ämtergänge für die jungen Afrikaner übernehmen wollen und Menschen, die Kleider sammeln, überdies ein paar gutmütige, aber überfordert wirkende Helfer.

Aber dann ist da eben auch die Frau vor dem Supermarkt, die nichts von den "scheiß Negern" wissen will und ältere Herren, die sich Abends auf der Suche nach Sex mit jungen Männern in die "Zona Paradiso" schleichen. "Wir haben keine Arbeit, und die werden hier vom Staat versorgt", schimpft ein Mädchen in der "Pizzeria Paradiso". 20 Euro kostet ein Flüchtling die Gemeinde, die 63 Millionen Euro Schulden hat.

"Kannst du mich nach Freiburg mitnehmen?", fragt Abdullah. "Ich bin ein sehr guter Fußballer." Ein Freund hat ihm vom SC Freiburg erzählt, er habe sich im Internet über den Verein informiert. Das wäre eine Zukunft. Im Norden. Alle hier wollen weiter sie über die Alpen. Doch Abdullah gehört zu denen, die sich gleich nach der Landung, halb verdurstet und völlig erschöpft ihre Personalien und Fingerabdrücke von der Polizei haben nehmen lassen. So schreibt es das Gesetz vor, auch wenn die Polizei niemanden dazu zwingen kann. Abdullah ist deshalb bereits am Ziel angekommen, ob er will oder nicht. Hat er einmal seinen Asylbescheid, was Jahre dauern könnte, darf er sich weiter frei in Italien bewegen. Übertritt er aber eine der Grenzen im Norden und wird dabei erwischt, wird ihn die deutsche, österreichische oder französische Polizei wieder nach Italien abschieben.

Nur in dem Land, in dem ein Flüchtling die EU erreicht hat, kann er legal Schutz suchen. So schreibt es die sogenannte Dublin-III-Verordnung vor, die aber leicht zu umgehen ist. Der Syrer Mohammed und seine Begleiter am Mailänder Bahnhof haben sich an die ungeschriebenen Gesetze gehalten, die unter den Flüchtlingen gelten, die weiter in den Norden wollen. "Keine Fingerabdrücke, keinen Namen", sagt er. Die Polizisten zwangen ihn nicht. Die Auffanglager kann jeder Flüchtling zu jeder Zeit verlassen. Mohammed haute ab.

In Mailand braucht er nun Geld, die richtigen Kontakte und noch ein wenig Mut. Die Fahrt mit dem Zug wagen immer weniger Flüchtlinge, weil hier nun schärfer kontrolliert wird. Obwohl es Berichte über Schweizer Zöllner gibt, die Flüchtlinge mit einem Ticket nach Deutschland oder Frankreich einfach weiterfahren lassen. Auch Italien hofft, dass der Kelch zumindest teilweise am Land vorübergeht. Schon jetzt tummeln sich Zehntausende in den überfüllten und über das ganze Land verteilten Auffanglagern. Nicht selten vergehen Jahre, bis die langsame italienischen Verwaltung über die Asyl-Anträge entscheidet. Dann werden Menschen wie Abdullah Osman, der mit der Hoffnung auf ein würdiges Leben seine Existenz riskierte, in die italienische Realität entlassen: Abdullah droht ein Leben in Schwarzarbeit, Ausbeutung und Illegalität.

(RP)
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