Analyse Eine Frage des Gewissens

Berlin · Unionsfraktionschef Volker Kauder hat Abweichlern Konsequenzen angedroht, sollten sie kommende Woche gegen neue Griechenland-Hilfen stimmen. Das freie Mandat der Abgeordneten gilt wenig, Fraktionsdisziplin umso mehr.

 Volker Kauder ist Chef der Unionsfraktion.

Volker Kauder ist Chef der Unionsfraktion.

Foto: dpa, pil fpt vfd

Volker Kauder, der Chef der Unionsfraktion, verfügt über viel Erfahrung. Er ist schon genauso lange im Amt wie die Bundeskanzlerin. Er sichert Angela Merkel (CDU) stets zuverlässig die Mehrheit in der eigenen Fraktion, auch in der Koalition. Nun hat Kauder ausgerechnet bei vielen seiner eigenen Leute mit ein paar unmissverständlichen Sätzen einen Sturm der Entrüstung ausgelöst. Es könne nicht sein, dass ihn die Fraktionsführung zum bloßen "Stimmvieh" degradiere, wetterte der CDU-Abgeordnete Andreas Mattfeldt. Sein Parteifreund Alexander Funk nannte Kauders Einlassungen "für jeden Vertreter der parlamentarischen Demokratie erschreckend und beschämend". Und seine Kollegin Veronika Bellmann meinte, wenn jeder Nein-Sager in der Fraktion anschließend von Kauder gemaßregelt würde, hätte die Union bald Probleme, freie Posten zu besetzen.

Kauders Kritiker vereint, dass sie bei der Griechenland-Abstimmung Mitte Juli, bei der es zunächst um die Aufnahme von Verhandlungen über ein drittes Hilfspaket gegangen war, allesamt mit Nein gestimmt oder sich enthalten haben. Insgesamt gab es 65 Abweichler in der Union, so viele wie noch nie unter Merkel und Kauder. Im Vorfeld der nächsten Abstimmung, bei der es kommende Woche um viel mehr, nämlich das 86 Milliarden Euro schwere Hilfspaket selbst gehen wird, wollte Kauder ein Ausrufezeichen setzen. Diejenigen in der Union, die erneut mit Nein stimmten, "können nicht in Ausschüssen bleiben, in denen es darauf ankommt, die Mehrheit zu behalten: etwa im Haushalts- oder Europaausschuss", drohte Kauder am Wochenende in einem Interview: "Die Fraktion entsendet die Kollegen in Ausschüsse, damit sie dort die Position der Fraktion vertreten." Kauder relativierte das gestern zwar und stellte klar, dass er keinem Abgeordneten, der seinem Gewissen gefolgt sei, Konsequenzen androhen wollte.

Trotzdem werfen seine Worte die alte Frage auf, wie viel das vom Grundgesetz in Artikel 38 garantierte freie Mandat der Abgeordneten wert ist. Wo endet die Gewissensfreiheit der Parlamentarier? Und wo hört die Fraktionsdisziplin auf, der sich jeder Abgeordnete unterworfen hat? Seit es die Bundesrepublik gibt, haben sich Politikwissenschaftler und Verfassungsrechtler mit dem komplizierten Spannungsverhältnis zwischen freiem Mandat und Fraktionsdisziplin beschäftigt - ohne eindeutiges Ergebnis.

Kauder kann sich auf die Fraktionssatzung berufen, die jeder Abgeordnete beim Mandatsantritt unterschreiben muss. Darin unterwirft er sich den Regeln, die sich die Fraktionen im Laufe der Jahrzehnte selbst gegeben haben. Abweichler müssen demnach der Fraktionsführung vorher anzeigen, wenn sie im Plenum anders abstimmen möchten. Die Fraktionsleitung nimmt die Rebellen dann in der Regel vor der Abstimmung ins Gebet. Zudem soll in Fraktionssitzungen vor jeder Abstimmung offen diskutiert werden. Danach gilt dann aber das Prinzip, dass sich die unterlegene Minderheit der Mehrheitsmeinung weitestmöglich anschließt.

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Andererseits kann die Fraktionsführung ein bestimmtes Abstimmungsverhalten auch nicht erzwingen. Abgeordnete "sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen", so steht es im Grundgesetz. Darauf beruft sich auch der Abgeordnete Andreas Nick. "Kein frei gewählter Abgeordneter kann zulassen, dass auch nur der Eindruck entsteht, er würde unter Druck auch wider besseres Wissen und Gewissen abstimmen", sagt der CDU-Politiker, der sich im Juli enthalten hatte. "Damit habe ich bewusst meinen Zwiespalt ausgedrückt, der eigenen Regierung nicht in den Rücken fallen zu wollen, aber einem etwaigen Paket auch noch keine Zustimmung erteilen zu können. Das muss auch künftig möglich sein." Zwar äußerte er Verständnis dafür, dass die Fraktionsführung die Mehrheit organisieren müsse. Aber dazu sollte sie zusammenführen, nicht ausgrenzen. Würde Kauder seine Ankündigung wahr machen und wichtige Positionen in Ausschüssen neu besetzen, beträfe das allein zehn bis 15 Abgeordnete. "Das wäre fatal", warnt Nick.

Im Vergleich zu anderen Demokratien sei die Fraktionsdisziplin bei uns besonders ausgeprägt, sagt der Bonner Politikwissenschaftler Frank Decker. "In Deutschland gilt der einzelne Abgeordnete verglichen mit anderen westlichen Demokratien wenig, die Fraktion dagegen viel", sagt er. "Knappe Regierungsmehrheiten seit den 60er Jahren haben dazu geführt, dass bei uns der Fraktionszwang so stark ist." Das habe Deutschland über Jahrzehnte ein stabiles politisches System beschert. Die Vertrauensfrage etwa mussten mit Helmut Schmidt (1982) und Gerhard Schröder (2001) im Parlament erst zwei Bundeskanzler stellen, die französische Regierung stellte sie dagegen 60 Mal.

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Foto: Phil Ninh

Doch die Parteienlandschaft in Deutschland hatte sich in den letzten Jahrzehnten geändert. Durch das Auftauchen der AfD, das Erstarken von Linken und Grünen drohten große Koalitionen zum Dauer-Phänomen zu werden. Weil deren Macht die Opposition erdrücke und andere als Mehrheitsmeinungen zu wenig Gehör fänden, könne es für die Zukunft sinnvoll sein, die Fraktionsdisziplin zu lockern und das freie Mandat zu stärken, sagt Decker.

Ob es von Kauder taktisch klug war, so hart gegenüber Andersdenkenden aufzutreten, steht auf einem anderen Blatt. Der Experte bezweifelt das. So zeige die Äußerung vor allem: "Der Fraktionschef offenbart Hilflosigkeit angesichts so vieler Abweichler", urteilt Decker. Am Ende könne Kauder "das Gegenteil dessen erreichen, was er intendiert hatte: Noch mehr Bedenkenträger in der Fraktion könnten jetzt gegen weitere Hilfen für Griechenland stimmen."

(mar / rl)
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