Istanbul Größte Flüchtlingswelle der Neuzeit

Istanbul · Die Türkei hat in drei Tagen mehr Syrer aufgenommen als Europa in drei Jahren. Derweil reißt der Flüchtlingsstrom nicht ab.

Der Gefechtslärm ist auch jenseits der türkischen Grenze zu hören: Mit Panzern und Artillerie rückt die Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) im Norden Syriens weiter gegen Siedlungsgebiete der Kurden vor - und treibt eine immer größer werdende Flüchtlingswelle vor sich her. Mehr als 130 000 Menschen sind in den vergangenen Tagen in die benachbarte Türkei geflohen, teilte der türkische Vizepremier Numan Kurtulmus mit. Die türkischen Behörden schlossen angesichts des Ansturms gestern vorübergehend die Grenze. Doch die Zahl der Flüchtlinge ist nicht das einzige Problem für Ankara: Die Regierung sieht sich neuen Vorwürfen ausgesetzt, sie kooperiere heimlich mit dem IS.

Die UN spricht von einer Fluchtbewegung in bisher unbekannter Dimension. Die Türkei hat allein seit Freitag mehr syrische Flüchtlinge aufgenommen, als ganz Europa in drei Jahren Bürgerkrieg: Den 130 000 Flüchtlingen an der türkisch-syrischen Grenze stehen nach UN-Angaben 124 000 syrische Flüchtlinge in Europa gegenüber. Insgesamt halten sich rund 1,5 Millionen Syrer in der Türkei auf. In einigen Städten stellen sie ein Drittel der Bevölkerung.

Und weitere sind offenbar auf dem Weg. Die IS-Verbände sollen in Teilen des Kampfgebietes nur noch einige hundert Meter von der türkischen Grenze entfernt stehen. Die Extremisten wollen die Grenzstadt Kobane und zwei weitere kurdisch beherrschte Gebiete an der Grenze einnehmen und damit die eigene Machtposition zementieren. Mitunter gehen Geschosse des IS auf türkischem Territorium nieder; die deutschen Soldaten mit ihren Patriot-Raketen in der 150 Kilometer von der Grenze gelegenen Stadt Kahramanmaras sind aber nicht in Gefahr.

Laut Medienberichten könnten die Kämpfe in der Nähe der nordsyrischen Stadt Kobane bis zu 500 000 weitere Kurden zu Flüchtlingen machen. Auch westlich von Kobane überqueren die Menschen in panischer Angst vor den IS-Extremisten die Grenze zur Türkei. Viele Flüchtlinge finden bei Verwandten oder Bekannten in der Türkei eine neue Bleibe. Andere machen sich sofort auf den Weg Richtung Westen. Busunternehmer berichteten von einem Ansturm auf die Überlandbusse Richtung Istanbul oder Ankara. An der Grenze selbst bemühen sich die türkischen Behörden, dem Ansturm Herr zu werden. Die Schließung der Grenze sei nur vorübergehend, hieß es: Grundsätzlich bleibe die Regierung bei ihrer "Politik der offenen Tür", wonach jeder Flüchtling aus Syrien ohne Ansehen seiner ethnischen oder religiösen Identität aufgenommen werde, sagte Kurtulmus.

Gleichzeitig drängen einige syrische und türkische Kurden in die entgegengesetzte Richtung: Sie wollen nach Syrien hinein, um sich dem Kampf gegen den IS anzuschließen. Die türkisch-kurdische Rebellengruppe PKK hatte zur Mobilmachung gegen die Dschihadisten im Norden Syriens aufgerufen. Dort hat der PKK-Ableger PYD eine kurdische Autonomie aufgebaut, die jetzt durch den IS gefährdet wird. Der türkischen Regierung werfen die Kurden vor, die Dschihadisten zu unterstützen, weil Ankara keine kurdische Autonomie wolle. Zwar weist die türkische Regierung diese Vorwürfe zurück. Präsident Recep Tayyip Erdogan fachte den Verdacht einer Zusammenarbeit mit dem IS aber neu an. So deutete er an, ein Tauschhandel mit dem IS habe zur Freilassung der fast 50 türkischen IS-Geiseln am Wochenende geführt.

Laut Medienberichten könnte Ankara ausländische IS-Kämpfer aus türkischen Gefängnissen nach Syrien zurück geschickt haben, um die Freilassung der Geiseln zu erreichen. Darunter könnten sich auch ein Schweizer und ein Deutscher befinden: Sie waren im Frühjahr im anatolischen Nigde festgenommen worden, nachdem sie auf dem Rückweg vom IS-Kampfeinsatz in Syrien nach Europa an einer Straßensperre drei Türken erschossen.

Türkische Oppositionspolitiker werfen der Regierung zudem vor, den IS zu unterstützen, indem sie verwundete Dschihadisten gratis in staatlichen türkischen Krankenhäusern behandeln lasse. Die Zeitung "Hürriyet" berichtete gestern, ein IS-Kämpfer werde unter Polizeibewachung in einem Krankenhaus der Großstadt Sanliurfa behandelt.

Gestern wurde bekannt, dass sich ein in Algerien entführter französischer Tourist in den Händen einer IS-Splittergruppe befinden soll. Das berichteten französische Medien unter Berufung auf ein Video der Islamisten, die mit der Ermordung der Geisel drohen. Das Außenministerium in Paris bestätigte die Entführung.

(RP)
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