London Großbritannien - ein Land steht unter Schock

London · Der Mord an der britischen Labour-Abgeordneten Jo Cox überschattet das bevorstehende EU-Referendum. Am Tag danach herrscht immer noch ungläubiges Entsetzen über die Bluttat.

In der Gemeindekirche von Jo Cox' Heimatstadt Birstall drängten sich die Leute. Am Palast von Westminster, dem Sitz des Parlaments, wehten die Flaggen auf halbmast. Mahnwachen zogen Hunderte von Trauernden an. Und die Referendums-Kampagnen für oder gegen den EU-Austritt wurden auch gestern ausgesetzt. Erst morgen soll es weitergehen mit dem Kampf um die Stimmen.

Der Mord an der 41-Jährigen, das brutale Attentat auf eine Volksvertreterin, dominierte gestern die Titelseiten sämtlicher britischen Zeitungen. Viele von ihnen zitierten den Satz ihres Ehemanns Brendan Cox: "Jo glaubte an eine bessere Welt. Sie würde wünschen, dass wir uns alle vereinen gegen den Hass, der sie getötet hat." Die Mutter eines drei- und eines fünfjährigen Kindes, die nächste Woche ihren 42. Geburtstag gefeiert hätte, war erst seit etwas mehr als einem Jahr Mitglied des Unterhauses. Aber in dieser kurzen Zeit hatte sie sich nicht nur den Respekt von Labour-Kollegen, sondern von Abgeordneten aller Parteien verdient. Sie stritt für syrische Flüchtlinge und engagierte sich in der Entwicklungspolitik, sie setzte sich für Frauenrechte ein und kämpfte gegen einen Brexit, den britischen Austritt aus der EU. Als eine leidenschaftliche Idealistin, die sich offen und lautstark für eine liberalere und menschlichere Flüchtlingspolitik ausgesprochen hat, wird sie von allen ihren Kollegen, egal welcher politischen Couleur, erinnert und gewürdigt.

Erste Fragen werden jetzt gestellt, ob ihr politisches Engagement eine Rolle bei ihrer Ermordung gespielt haben könnte. Die Polizei hat kurz nach der Tat einen 52-jährigen Mann namens Tommy Mair festgenommen. Er wird von seinen Nachbarn als Eigenbrötler ohne festen Job beschrieben, der alleine lebte und sich manchmal mit Gartenarbeit etwas dazuverdiente. Sein Bruder beschreibt ihn als jemanden, der eine Vorgeschichte psychischer Erkrankungen hatte und politisch nicht interessiert gewesen sei. Allerdings wurde bekannt, dass Tommy Mair Abonnent der rechtsextremen Zeitschrift "S.A. Patriot" (etwa: Südafrikanischer Patriot) war, die sich gegen "multikulturelle Gesellschaften" und "expansiven Islamismus" ausspricht. Auch soll Mair, wie die anti-rassistische US-Organisation "Southern Poverty Law Center" meldete, jahrzehntelang die amerikanische Neonazi-Gruppe "National Alliance" unterstützt haben. Laut dem Massenblatt "Sun" hat Mair sich bei der "National Alliance" Handbücher darüber besorgt, wie man Sprengstoff herstellt und Handfeuerwaffen bastelt.

Zu dem rechtsradikalen Hintergrund passt auch, dass der mutmaßliche Täter bei seinem Angriff auf Cox laut Zeugenaussagen mehrmals "Britain first", "Großbritannien zuerst", gerufen haben soll. Die Anti-Ausländer-Parole ist zugleich der Name einer rechtsradikalen britischen Organisation, die unter anderem gegen die Islamisierung des Landes streitet. Jo Cox hatte sich in der Vergangenheit deutlich gegen diese Organisation und ihren "Rassismus und Faschismus" ausgesprochen.

Die Polizei will vorerst keine Angaben zu einem möglichen Motiv machen. Doch unabhängig davon dürfte der Vorfall eine Rolle in der Brexit-Debatte spielen. Die Welle der Sympathie für eine Frau, die sich passioniert für den Verbleib in der EU eingesetzt hat, wird ihren Eindruck auf unentschlossene Wähler nicht verfehlen. Dazu wirft die Tat ein Licht auf den Ton der Brexit-Debatte, der in den letzten Wochen immer schriller wurde. Gerade Vertreter des euroskeptischen Lagers müssen sich da einiges vorwerfen lassen. Ob es der Justizminister Michael Gove ist, der feststellte, dass die Leute "genug von Experten haben", worunter seine Zuhörer auch Abgeordnete verstehen sollten, oder ob es der Chef der rechtspopulistischen Ukip-Partei Nigel Farage ist, der sich darüber freute, dass "die Bürger der politischen Klasse den Stinkefinger zeigen": Solche Parolen vergiften die politische Atmosphäre.

Die Eliten-Beschimpfung gehörte bisher zum Instrumentenkasten der Brexit-Befürworter. Damit sollte jetzt Schluss sein, verlangte etwa der Schauspieler Samuel West auf Twitter: "Bitte kein Gerede mehr von 'Politiker denken nur an sich selbst'. Wir wählen sie. Sie versuchen, die Welt besser zu machen."

Jetzt aber hat selbst das Boulevardblatt "Sun", das eine Wahlempfehlung für den Brexit abgegeben hat und nicht für seine Zimperlichkeit bekannt ist, genug vom Ton der Debatte: "Diese Kampagne", warnte ein Leitartikel in Großbritanniens größter Zeitung, "ist weit hinausgegangen über eine offene und ehrliche Debatte. Jo Cox sah das Beste in den Menschen. Wir sollten das Gleiche zu tun versuchen in dieser letzten Woche vor der Wahl."

(RP)
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