Istanbul Hexenjagd auf Kurden in der Türkei

Istanbul · Reaktion auf Attacke in Kayseri und Weihnachtsverbot an deutscher Schule zeigen, wie angespannt die Lage ist.

Erdogan, deutsche Schule, Weihnachtsverbot - in der erregten deutsch-türkischen Debatte sind das Zutaten für einen großen Skandal. Zudem soll die Schulleitung nicht nur den Weihnachtsunterricht untersagt, sondern dem Schulchor vergangene Woche auch verboten haben, am traditionellen Weihnachtskonzert im deutschen Generalkonsulat teilzunehmen. Auch diese Behauptung sei falsch, sagt Mustafa Yeneroglu von der Regierungspartei AKP. Doch sie wird vom Auswärtigen Amt in Berlin gestützt: "Es ist sehr schade, dass die gute Tradition des vorweihnachtlichen interkulturellen Austausches an einer Schule mit langer deutsch-türkischer Tradition in diesem Jahr ausgesetzt wurde."

Der echte oder falsche Skandal wirft ein Schlaglicht auf eine jahrzehntelange, weitgehend gedeihliche deutsch-türkische Zusammenarbeit an der Eliteschule, die 1914 die ersten deutschen Lehrer aufnahm. Heute unterstützt die Regierung in Berlin die Oberschule mit viel Geld und schickt 35 Lehrer, deren Auftrag unter anderem lautet, den Kindern deutsche Bräuche und Kultur nahezubringen. Teile des Unterrichts finden in deutscher Sprache statt, wovon viele Ehemalige in ihrem Berufsleben profitieren, zum Beispiel der frühere türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu.

Das "Istanbul Lisesi" wird nur von türkischen Schülern besucht, ist aber auch eine anerkannte deutsche Auslandsschule. Sie ist gebührenfrei und steht Kindern aus armen Familien offen, wenn sie entsprechende Leistungen erbringen. Neben dem türkischen Abschluss können sie dort das Abitur machen und damit in Deutschland studieren. Das deutsche Kollegium an der "Istanbul Lisesi" hat eine eigene Abteilungsleitung, die der türkischen Schulleitung untersteht. Sie soll schon seit Längerem über den neuen Kurs der Schule verunsichert sein. Ein Weihnachtsverbot dürfte nur schwer in Einklang mit dem Kulturabkommen zwischen der Türkei und Deutschland zu bringen sein, in dem die Rede davon ist, "sich gegenseitig dabei zu unterstützen, ihren Völkern die Kenntnis der Kulturgüter des anderen Landes zu vermitteln". Ein Zusatzvertrag sieht vor, dass Deutschland bis zu 80 deutsche Lehrer an bestimmte türkische Schulen entsendet. Sie werden aus deutschen Steuermitteln bezahlt.

Tatsächlich führt die Diskussion um das Weihnachtsverbot hinein in die Neustrukturierung des gesamten türkischen Schulsystems. Die AKP-Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan zwingt alle Bildungseinrichtungen zunehmend auf einen islamisch-konservativen Kurs.

Die jüngsten Terroranschläge tragen dazu entscheidend bei. Nach der schweren Autobombenattacke auf einen Bus mit Soldaten in der zentralanatolischen Provinzstadt Kayseri am Samstagmorgen wurden aus vielen Städten der Türkei Angriffe nationalistischer Gruppen auf Büros der pro-kurdischen Linkspartei HDP gemeldet. Mehrere Einrichtungen der zweitstärksten Oppositionspartei wurden verwüstet und angezündet. Nach dem Anschlag mit 14 Toten und 55 teils schwer Verletzten machte Erdogan die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK für das Attentat verantwortlich. Das gesamte Land sei jetzt im Visier des Terrors. Der legalen HDP wirft Erdogan seit Langem enge Kontakte zur PKK vor. Innenminister Süleyman Soylu kündigte wie nach dem Istanbuler Anschlag Vergeltung und Rache an. Die USA und die EU-Regierungen verurteilten den Anschlag scharf.

Der Angriff eines Selbstmordattentäters auf einen voll besetzten Bus mit Soldaten in der Millionenstadt Kayseri erfolgte nur eine Woche nach dem verheerenden Doppelanschlag auf Sondereinsatzpolizisten in Istanbul, bei dem 44 Menschen starben. Dem Fernsehsender "ntv" zufolge waren die Soldaten in ihrer Wochenendfreizeit auf dem Weg zum Einkaufen, als der Attentäter seine Bombe zündete. Dagegen sagte der Journalist Saygi Öztürk vom Oppositionsblatt "Sözcü" im Nachrichtensender "CNN Türk", bei den Opfern handele es sich um Soldaten eines Fallschirmjäger-Bataillons, die für den Einsatz im Südosten des Landes ausgebildet würden. Im Bekennerschreiben zum Istanbuler Anschlag schrieb die TAK, sie habe auf die Haft des PKK-Anführers Abdullah Öcalan und die türkischen Militäroperationen im Südosten des Landes aufmerksam machen wollen.

Obwohl die Führung der prokurdischen HDP den Anschlag in Kayseri unmittelbar danach scharf verurteilte, wurden laut kurdischen und linken Medien mindestens 16 ihrer Parteibüros in der Nacht zu gestern in einem Dutzend Städte zum Angriffsziel aufgehetzter Mobs von Nationalisten. Bei den koordiniert wirkenden Angriffen wurden mehr als zehn HDP-Einrichtungen verwüstet, die Parteibüros in Kayseri, Bursa, Ankara-Yenimahalle und Istanbul-Belikdüzü angezündet.

(RP)
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