Minsk Hilfe für Weißrusslands zerbrochene Familien

Minsk · Geschätzt zehn Prozent der Minderjährigen in der autokratisch geführten Ex-Sowjetrepublik gehören zu den "sozialen Waisen".

Der Weg zu Vladimir und seiner Familie führt durch einen engen und heruntergekommenen Treppenaufgang. Die kleine Wohnung ist warm, der gusseiserne Ofen im kleinen Flur heizt mächtig ein. Ein Bett für jedermann, ein Tisch, ein Schrank, eine kleine Küche, kein Bild an den Wänden - das Nötigste eben. Der jüngste Sohn, der auf den gleichen Namen wie sein Vater hört, hält einen kleinen Plastik-Schmetterling in Händen. Wenn man sich umschaut, erkennt man schnell, dass es offenbar sein einziges Spielzeug ist.

Sein Vater ist ein kräftiger und freundlicher Mann. Durch Zufall, berichtet er, erfuhr Vladimir in der Ukraine, seinem Heimatland, dass er diese Wohnung in Weißrussland bekomme könne, wenn er gleichzeitig Arbeit finden würde. Der 36-Jährige zögerte keine Minute, als er von diesem Angebot im Internet las. Er bot seine Dienste als handwerklich geschickter und fleißiger Arbeiter an, bekam eine Zusage von einem Bauernhof und machte sich mit seiner Frau, den vier Kindern und wenigen Habseligkeiten sofort auf den Weg. Jetzt arbeitet er als Traktorist in Sutin, einer südöstlich von Minsk gelegenen 800-Seelen-Gemeinde, seine Frau ist Melkerin auf dem gleichen Hof. Wenn man sich in Vladimirs karger Wohnung umschaut, mag man es kaum glauben, wenn er sagt: "Wir sind so glücklich hier. In der Ukraine war alles viel schlimmer."

Drei Buchstaben stehen für das neue Leben von Vladimir und seiner Familie, das sie alle als großes Glück empfinden: FSP, das "Familienstärkungsprogramm" der vom Österreicher Hermann Gmeiner gegründeten Organisation "SOS Kinderdorf". Auch der weißrussische Trägerverein "SOS Belarus", der vor 25 Jahren gegründet wurde, fördert bedürftige Familien, so gut es geht. Der Bedarf ist gewaltig. Denn mit dem Untergang der Sowjetunion 1991 ging nicht nur der weltgrößte kommunistische Einparteien-Verbund zugrunde. Auch viele Gesellschaftsstrukturen in den 15 Republiken lösten sich auf, etliche Familien zerbrachen.

"Wir wussten zunächst nicht, wo wir mit unserer Hilfe anfangen sollten", erinnert sich Mitinitiator Nikolay Khrolovich an die SOS-Belarus-Gründung. "Aber wir sind eine starke Gemeinschaft und haben viel erreicht", ergänzt die nationale SOS-Direktorin Tatiana Burova.

Zumal "SOS Belarus" viel mehr ist als nur der Träger der drei Kinderdörfer. Besuch in einem Minsker Kinderkrankenhaus, das eher einem Wohnhaus ähnelt. Die medizinische Versorgung der 90 Kinder sei gut, versichert Leiterin Svetlana Malashko. Aber die pädagogische und psychologische Betreuung der Waisen sei nur mit Hilfe von Freiwilligen und SOS-Spezialisten zu leisten. "Viele der Kinder suchen Nähe, sie wollen ständig umarmt werden", sagt eine Schwester.

Im Festraum sorgen einige Freiwillige mit einer kleinen Väterchen-Frost-Feier für leuchtende Kinderaugen. Überall hängen Girlanden, Bilder, Musik füllt den geschmückten Raum, ein Clown läuft umher. In manchen Zimmern sitzen gesunde Kinder in Laufställen - sie haben gute Chancen auf eine Adoption. In anderen Zimmern liegen zum Teil schwerstbehinderte Kinder. Die Beatmungsgeräte laufen. Es gibt auch eine Palliativabteilung. Wer hier über die Flure läuft, wird still. Der Vorstandsvorsitzende von "SOS Kinderdörfer weltweit", Wilfried Vyslozil, der zur 25-Jahr-Feier von "SOS Belarus" nach Minsk gereist ist, verabschiedet sich von Svetlana Malashko. "Das war ein berührender Blick in eine professionelle und freundliche Atmosphäre."

Gut 200 Kinder leben derzeit in den drei weißrussischen Kinderdörfern. Manche Eltern fühlten sich mit ihnen überfordert. Schnell, oft sehr schnell greift aber auch der Staat nach dem Kind, wenn die Behörden das Gefühl oder die Gewissheit haben, dass es bei Vater und Mutter in schlechten Händen ist. Schätzungen zufolge zählen zehn Prozent der unter 18-Jährigen in Weißrussland zu den "sozialen Waisen". In Polen etwa liegt die Quote nur halb so hoch. Immerhin sinken auch in Weißrussland die Zahlen.

Kriminalität, Alkoholismus, Arbeits- und Perspektivlosigkeit: In vielen Familien eskaliert die Lage, häusliche Gewalt gegen Frauen ist ein Massenphänomen. SOS Belarus bietet ihnen Schutzräume. Fachleute helfen ihnen hinter gesicherten Türen bei der Erziehung der Kinder, bei der Haushaltsführung, bei der Arbeitsvermittlung. Fähigkeiten, die das Selbstwertgefühl der Frauen für das Leben danach stärken sollen.

Abendessen in Haus Nummer 3 im Kinderdorf Marina Gorka. Natalja hat in ihren 20 Jahren als SOS-Mutter bereits 14 Kinder betreut. Derzeit lebt sie mit fünf Heranwachsenden unter einem Dach. Vor dem gemeinsamen Essen schauen zwei von ihnen Fernsehen, einer von ihnen bittet um eine Partie Mühle. Einen Vater gibt es nicht, und doch vermitteln diese sechs Bewohner den Eindruck, dass sie sich zu einer richtigen Familie zusammengefunden haben. Warum engagiert sich Natalja so intensiv für diese Kinder, die nicht ihre leiblichen Kinder sind? Sie zögert lange. Plötzlich fließen Tränen. "Weil ich meine eigenen Kinder nicht sehen darf." In einem langen Rechtsstreit hat sich ihr Ex-Mann vor einigen Jahren durchgesetzt, die Trennung von ihren Kindern ist für sie ein erkennbar schmerzhafter Zustand. Mehr möchte sie dazu aber nicht sagen.

Die SOS-Verantwortlichen sind mehr als glücklich darüber, dass es viele Frauen und auch so manchen Mann gibt, die sich für eine Mitarbeit in den Kinderdörfern anbieten. Bis sie das Amt einer Kindermutter oder eines Kindervaters übernehmen dürfen, müssen sie allerdings eine lange Probephase durchlaufen. Mindestens ein Jahr dauert es, bis sie nach einer Art Hospitanz in einer SOS-Familie diese große Verantwortung übertragen bekommen.

Wer das Kinderdorf Borowljany besucht, wird auf schmerzhafte Weise an die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl erinnert. Im dortigen Sozialzentrum profitieren Dutzende krebskranke Kinder von den SOS-Rehabilitations- und Therapieangeboten, während sie parallel dazu in der nahe gelegenen onkologischen Klinik medizinisch betreut werden. Im Kinderdorf bekommen sie besonders vitaminreiches Essen. Noch immer verzweifeln viele Familien an den Folgen des Unglücks. "Viele Mütter glauben, dass sie an der Krankheit ihrer Kinder schuld sind", sagt eine Mitarbeiterin. "Sich selbst vergessen sie dabei völlig."

Die SOS-Helfer, es sind vor allem starke Frauen, haben an vielen Fronten zu kämpfen. Auch der Staat, der selbst wenig vergleichbare Hilfsangebote hat, macht es ihnen mit bürokratischen Hürden und fehlenden Steuererleichterungen nicht leicht. "Unser größtes Problem besteht darin", sagt eine von ihnen, "dass es in diesem Land offiziell keine Probleme gibt."

Mut machen aber die Geschichten von Kindern, die es geschafft haben. Wie die von Tatjana (Name geändert): Mit fünf Jahren landete sie im SOS-Kinderdorf Marina Gorka. Ihre Eltern sahen sich außerstande, sich um sie zu kümmern. Acht Jahre lang lebte sie mit fünf weiteren Waisen und der SOS-Mutter unter einem Dach. "Das war und ist meine wahre Familie", denkt sie gern daran zurück. Mit 15 Jahren siedelte sie ins SOS-Jugendhaus um, wo sie sich mit anderen Jugendlichen auf die Welt der Erwachsenen vorbereitete. Mit 17 nahm ein Freund sie zum Thaiboxen mit. Im Februar 2016 errang sie den Titel der weißrussischen Meisterin, drei Monate später belegte sie bei der WM den dritten Rang. Jetzt würde Tatjana gerne Sportmanagement studieren. Und bei den Olympischen Spielen 2020 in Tokio Gold holen.

(RP)
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