Henin-Beaumont Im Labor des Front National

Henin-Beaumont · Hénin-Beaumont in Nordfrankreich wird seit 2014 von den Rechtsextremen regiert - eine Art autoritäres Experiment, wie Kritiker sagen.

Vor dem Rathaus hängt eine riesige Plane, auf der die Fassade des Gebäudes aus dem Jahr 1925 zu sehen ist. Hénin-Beaumonts Bürgermeister Steeve Briois hat darauf geachtet, dass nicht einmal auf der Verkleidung, die die Bauarbeiten dahinter kaschieren soll, wie in anderen französischen Städten die Europaflagge zu sehen ist. Briois lenkt die Geschicke der Kleinstadt seit 2014 - als einer von 14 Bürgermeistern des Front National (FN) in Frankreich.

Und der 44-Jährige hat Hénin-Beaumont mit seinen 27.000 Einwohnern, 30 Kilometer südlich von Lille gelegen, zu einem Labor von Marine Le Pen gemacht, die dort zeigen will, dass sie das ganze Land regieren kann. Am Sonntag findet der erste Wahlgang der Präsidentenwahl statt, und Marine Le Pen hat beste Chancen, in die Stichwahl einzuziehen. "Der Gedanke, dass der FN gewinnen könnte, macht Angst", sagt Marine Tondelier - "so, wie er hier mit Oppositionellen, städtischen Angestellten, Vereinen und Journalisten umgeht." Die 30-Jährige ist Stadträtin der Opposition und hat gerade ein Buch über ihre Erfahrungen geschrieben.

Die zierliche Frau mit den langen dunklen Haaren stammt aus der ehemaligen Bergarbeiterstadt mit ihren eingeschossigen Häusern aus roten Ziegeln, die sich von der Schließung des letzten Kohlebergwerks 1970 immer noch nicht erholt hat. Auch Briois, der schon mit 16 in den FN eintrat, kommt aus der Region, die jahrzehntelang links wählte.

Das änderte sich am 30. März 2014, als der 44-Jährige das Rathaus schon im ersten Wahlgang gewann. Ein Triumph für Marine Le Pen, die sich zwei Jahre vorher im Wahlkreis von Hénin-Beaumont um einen Parlamentssitz beworben hatte und knapp gegen den Sozialisten Philippe Kemel gescheitert war. Noch immer kommt sie mehrmals im Jahr, um sich in ihrer politischen Wahlheimat zu zeigen, in der die Arbeitslosigkeit bei 18 Prozent liegt.

"Die Leute wollen mit ihr fotografiert werden. Das ist mehr Show als politische Überzeugung", sagt Eugène Binaisse, der ehemalige Bürgermeister von Hénin-Beaumont, der den Sozialisten nahesteht. "Ihre hasserfüllte Art, andere anzugreifen, gefällt vielen. Sie ist der Meinung, dass man die Dinge kaputtmachen muss, um dann zu zeigen, dass der FN es besser machen kann", ergänzt der 77-jährige Oppositionsführer in seinem Wohnzimmer, in dem sich das Spielzeug seiner vier Enkel stapelt. Im Stadtrat muss er sich oft Beschimpfungen von Briois' Stellvertretern anhören. Der Bürgermeister selbst stellt der Opposition das Mikrofon ab, wenn ihm die Äußerungen nicht passen. "Die Stadt wird auf autoritäre Art und Weise geführt", bemerkt Binaisse bitter.

Sein rechtspopulistischer Nachfolger ließ gleich nach der Amtsübernahme das Büro der Menschenrechtsliga schließen. Gut funktionierende Vereine, deren Führung der Opposition nahestand, verloren ihre Zuschüsse. Im vergangenen Jahr war Briois Initiator der Initiative "Meine Kommune ohne Flüchtlinge", der sich die FN-Bürgermeister anschlossen. Auch eine Verordnung gegen Bettelei erließ der Stadtobere, der sich gerne auf dem Markt zeigt und mit vielen per Du ist. Doch genau jene Menschenrechtsliga, die inzwischen im Nachbarort untergekommen ist, rief daraufhin das Verwaltungsgericht Lille an, das die Verordnung aussetzte.

Im Stadtzentrum sind ohnehin keine Bettler zu sehen. Auch keine anderen Einwohner - bis auf einen Makler, der Interessenten für die vielen leerstehenden Läden und Häuser sucht. Seit die Kette Auchan den größten Supermarkt Europas vor den Toren von Hénin-Beaumont eröffnete, sind rund um das Rathaus nur noch Optiker, Banken und Apotheken geblieben. "Die Leute hier wählen den FN nicht aus Überzeugung, sondern aus Verzweiflung", sagt der Wirt in einem der wenigen Cafés, die in der Innenstadt noch geöffnet haben.

Hénin-Beaumont bietet der Partei den perfekten Boden für ihre nationalistische Ideologie. Die Stadt wurde jahrelang von dem korrupten Sozialisten Gérard Lalongeville heruntergewirtschaftet, der als Bürgermeister wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder später zu vier Jahren Haft verurteilt wurde. Le Pens Rhetorik von "denen da oben", die sich auf Kosten der einfachen Leute bereichern, passte also genau auf den Fall Hénin-Beaumont.

Doch das reicht nicht, um den Erfolg des Front National zu erklären, der dem Belgier Lucas Belvaux die Vorlage für den Kinofilm "Chez nous" (deutscher Titel: "Das ist unser Land!") bot. "Wir bezahlen hier für die Fehler von François Hollande", sagt Binaisse. "Wenn seine Amtszeit ein Erfolg gewesen wäre, dann hätten wir hier jetzt nicht den FN." Am Tag der Präsidentenwahl wird seine Stadt wieder in den Schlagzeilen sein. Dann will Marine Le Pen dort nämlich den Wahlabend verbringen. "Das System ist in Paris, sie ist im Frankreich der Vergessenen", sagt einer ihrer Gefolgsleute im Radio.

(RP)
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