Analyse Immer wieder Erdogan

Berlin/Ankara · Die Bundeskanzlerin steht bei ihrem Besuch in Ankara unter hohem Erwartungsdruck. Viele wünschen sich eine Verbesserung der Beziehung - und zugleich scharfe Kritik am türkischen Präsidenten.

Zerschossene Fenster, aufgerissene Wände: Wie andere politische Besucher in Ankara seit dem Putschversuch vom Sommer wird Bundeskanzlerin Angela Merkel heute in Ankara die Spuren der Kämpfe im türkischen Parlamentsgebäude in der Hauptstadt besichtigen. Die Zeugnisse der Gewalt in der Volksvertretung, die von Kampfjets der Putschisten angegriffen wurde, werden als Mahnmal erhalten - und Gästen wie Merkel gezeigt, um zu verdeutlichen, was das Land damals durchmachen musste. Türkische Politiker erläutern anhand der Zerstörungen gerne, warum sie von westlichen Ländern die Auslieferung mutmaßlicher Putsch-Komplizen verlangen. Trotz der bedrückenden Angriffsspuren dürfte Merkel diese Forderung nicht erfüllen.

Es ist insgesamt der neunte Türkei-Besuch der Kanzlerin, aber der erste seit dem Putschversuch vom 15. Juli vergangenen Jahres. Die Positionen von Deutschland und der Türkei erscheinen in einigen Bereichen unüberbrückbar. Zudem stehen sowohl Merkel als auch Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan vor wichtigen Wahlen in ihren Ländern, weshalb Zugeständnisse deshalb noch schwerer fallen als sonst schon.

Verärgert sind Erdogan und andere türkische Regierungspolitiker vor allem darüber, dass die deutschen Behörden die Auslieferung von mutmaßlichen Anhängern des islamischen Predigers Fethullah Gülen ablehnen. Erdogan betrachtet Gülen und dessen Leute als Terroristen und treibende Kräfte hinter dem Putschversuch, doch in Deutschland und anderen westlichen Staaten herrschen Zweifel. Europäische Geheimdienste sind zudem überzeugt, dass Erdogan den Putschversuch für eine Hexenjagd auf Gegner jeder politischen Couleur ausnutzt.

"Deutschland hat eine große Verantwortung", sagt der frühere Europa-Abgeordnete Ozan Ceyhun, der für die Erdogan-freundliche Zeitung "Daily Sabah" schreibt. "Die Terroristen von Fethullah Gülen genießen in Deutschland ein gutes Leben, obwohl sie hinter einem Putschversuch in einem Nato-Land standen", kritisierte Ceyhun im Gespräch mit unserer Redaktion: "Das ist schon problematisch."

Ignorieren lässt sich das Thema nicht. Kurz vor Merkels Besuch wurde bekannt, dass 40 türkische Soldaten aus Nato-Einrichtungen in Deutschland politisches Asyl beantragt haben. Ihnen drohe bei einer Rückkehr in ihr Land die Inhaftierung, argumentieren sie.

Nicht nur mutmaßliche Gülen-Anhänger sind Erdogan ein Dorn im Auge. Wiederholt hat er Berlin vorgeworfen, auch Anhänger der kurdischen Terrorgruppe PKK zu schützen. Mit der Aufnahme säkularer Regierungsgegner wie des Journalisten Can Dündar zieht Deutschland noch mehr Zorn aus Ankara auf sich. Erdogan sagte kürzlich, er habe Merkel die Akten zu mehr als 4000 Terrorverdächtigen in Deutschland übergeben. Gehandelt habe Deutschland aber nicht. Bei politischen Vorwürfen an in Deutschland lebende Türken haben die deutschen Justizbehörden die sogenannte Rechtshilfe für die Türkei inzwischen eingestellt.

Erdogan-Anhänger Ceyhun erhofft sich vom Merkel-Besuch zumindest einige Zugeständnisse Berlins. Möglicherweise könne die Kanzlerin "in der Flüchtlingsfrage etwas mitnehmen" von ihrem Besuch, wenn sie der Türkei auf anderen Gebieten entgegenkomme. Erdogan droht immer wieder mit einer Aufkündigung des Flüchtlingsdeals mit der EU. Hunderttausende Menschen könnten sich dann erneut in Richtung Westeuropa auf den Weg machen.

Diese Verquickung der Flüchtlingsfrage mit türkischen Forderungen an die Europäer dürfte beim Merkel-Besuch erneut zum Thema werden. Allerdings wird die Kanzlerin wenige Monate vor der Bundestagswahl den Eindruck vermeiden wollen, vor Erdogan einzuknicken. Umgekehrt muss Erdogan kurz vor dem Verfassungsreferendum über die Einführung des Präsidialsystems im April vor eigenem Publikum zeigen, dass er sich nicht von den Europäern hinhalten lässt.

Wie ungemütlich der Empfang für die Kanzlerin werden könnte, zeigen die Kommentare in Erdogan-treuen Zeitungen in der Türkei. Das islamistische Blatt "Yeni Akit" wettert schon jetzt über den anstehenden Besuch der "Terrorhelferin Merkel".

(RP)
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