Neu Indien hat die langsamste Justiz der Welt

Neu · Kein Land hat so überlastete Gerichte und so langwierige Verfahren. Sogar ein Rechtsstreit aus dem Jahr 1878 wartet noch auf ein Urteil.

Delhi Die ausgebrannte Ruine des Upaahr-Kinos im Süden von Neu Delhi steht immer noch. Auf den Treppen, die einst ins Foyer führten, wuchert Gras, der Zement bröckelt. Die letzte Vorstellung war am 13. Juni 1997 - vor fast 20 Jahren. Seither ist das Kino auf Anordnung der Regierung gesperrt, weil ein Gerichtsverfahren gegen die Besitzer wegen fahrlässiger Tötung anhängig ist. In der Nachmittagsvorstellung des 13. Juni 1997 war im Gebäude ein Feuer ausgebrochen, das sich blitzschnell verbreitet hatte. 59 Menschen erstickten, mehr als 100 wurden schwer verletzt, weil Notausgänge zugesperrt oder mit Sitzen verbaut waren, Notbeleuchtungen nicht funktionierten und es keinen Feueralarm gab. Erst in diesem Februar erging das Urteil gegen die Kinobesitzer: die Gebrüder Sushil Ansal und Gopal Ansal. Sushil, der heute 77 Jahre alt ist, bekam Haftverschonung wegen seines Alters, Gopal, der 69 ist, muss für ein Jahr hinter Gitter. Angesichts der milden Strafen war die Kritik harsch: Opferfamilien sprachen von einem "extrem enttäuschenden Urteil".

Ein Gericht hatte bereits 2007 die Ansal-Brüder wegen fahrlässiger Tötung verurteilt. Die Ansals zogen daraufhin vor das Oberste Gericht. Dieses entschied 2015, die beiden müssten eine Geldstrafe von umgerechnet vier Millionen Euro zahlen. Doch dies erschien Indiens "Central Bureau of Investigation", der höchsten Ermittlungsbehörde des Landes, zu milde, und sie erhob Einspruch gegen das Urteil, so dass der Rechtsstreit in eine neue Runde ging. Nicht alle Angeklagten haben den Prozess, der sich über 20 Jahre hinwegzog, überlebt. Einer der Angeklagten, ein Manager, der an diesem Tag im Kino Dienst tat und bei Ausbruch des Feuers floh, anstatt Hilfe zu holen, verstarb bereits 2008.

Prozesse, die sich über Jahrzehnte hinziehen, sind in Indien keine Seltenheit. In manchen Gerichtssälen werden Verfahren über Grundstücksstreitigkeiten entschieden, die mehrere Generationen zuvor begonnen wurden. Menschen, die wegen Bagatellen angeklagt sind, verbringen unter Umständen Jahre in Untersuchungshaft, oft weit länger, als es die Maximalstrafe für das Vergehen vorsieht. Indiens Gefängnisse sind hoffnungslos überfüllt, und 68 Prozent der Inhaftierten sind Untersuchungshäftlinge. Ob jemand gegen Kaution freikommt, hängt vor allem von der Qualität des Anwalts ab. Das Nachsehen haben die Armen, die sich keinen Rechtsbeistand leisten können.

Mehr als 22 Millionen Gerichtsverfahren sind in den indischen Distrikt-Gerichten anhängig. Sechs Millionen davon bereits länger als fünf Jahre. Weitere 4,5 Millionen Fälle warten bei den High Courts (Oberlandesgerichten) auf eine Entscheidung. Mehr als 60.000 Verfahren sind beim Obersten Gericht anhängig. Und die Zahlen steigen.

Tirath Singh Thakur, der Chef des Obersten Gerichtes, beklagte sich vor kurzem bei Indiens Premierminister Narendra Modi über die Untätigkeit der Regierung und forderte die Einstellung von mehr Richtern und Personal, um den Verfahrensstau abbauen zu können. Im Haushalt erhält das Justizministerium als Budget nur bescheidene 0,2 Prozent der Gesamtausgaben.

Auf eine Million Inder kommen nur 13 Richter. In den Industrieländern liegt dieser Wert bei 50 Richter auf eine Million Einwohner. Auf Grund des Personalmangels werden Anhörungen immer wieder vertagt, die Richter sind chronisch überarbeitet, und Beklagte können Verfahren leicht verschleppen, wenn sie nicht zu Anhörungen erscheinen. Richter verdienen zudem weit schlechter als Anwälte, was es schwermacht, Stellen mit gut qualifizierten Juristen zu besetzen. Anwälte können durch einfache Verzögerungstaktik das Gericht lahmlegen, indem sie routinemäßig Einspruch gegen Entscheidungen einlegen oder nicht zum Gerichtstermin erscheinen. Indische Firmen tragen Streitigkeiten untereinander daher immer öfter vor Schiedsgerichten aus, die außerhalb der staatlichen Gerichte operieren und schneller und preiswerter sind.

Indiens längstes Gerichtsverfahren läuft seit 1878, begann also lange, bevor das Land unabhängig wurde. Bei dem Streit geht es um eine Parzelle Land in der Nähe der heiligen Stadt Varanasi, um die sich eine Gruppe schiitischer und sunnitischer Muslime streiten - ein Urteil ist nicht in Sicht. Selbst Banalitäten beschäftigen die Justiz über Jahrzehnte. Der indische Sportler und Schauspieler Milind Soman etwa wurde 1995 wegen unsittlichen Verhaltens angezeigt, weil er mit seiner damaligen Freundin nur mit Sport-Schuhen bekleidet für eine Werbeanzeige posiert hatte. Der Prozess zog sich über 14 Jahre hin.

Bishwanath Ghosh, der damals als junger Reporter als einer der Ersten am Unglücksort im Green Park-Viertel eintraf, um über das Feuer im Uphaar-Kino zu berichten, erinnert sich noch gut an den Tag. Indien, so sagt er, habe sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten radikal verändert. Wenn jemand 1997 ins Koma gefallen wäre und nun aufwachen würde, er würde das Land nicht mehr wiedererkennen. Mit einer Ausnahme, der unendlichen Langsamkeit der Rechtsprechung. "Daran hat sich nichts geändert."

(RP)
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