Interview mit Thomas de Maizière "Leistungen für Flüchtlinge sind ziemlich hoch in Deutschland"

Düsseldorf · Bundesinnenminister Thomas de Maizière verteidigt im Interview mit unserer Redaktion die Flüchtlingspolitik Angela Merkels, spricht sich aber für einheitliche Standards bei Asylverfahren und Leistungen in Europa aus.

 Thomas de Maizière (Archivaufnahme).

Thomas de Maizière (Archivaufnahme).

Foto: dpa, mkx fpt kno

In Wahlkampfzeiten sind Spitzenpolitiker noch mehr unterwegs als sonst. Die RP-Redaktion traf Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) im alten Gebäude der WestLB. Dort sitzt jetzt sein Parteifreund, der neue NRW-Innenminister Herbert Reul. Er war der Gastgeber für das Gespräch — und mischte sich bisweilen kräftig ein.

Wie ist die Stimmung im Wahlkampf?

De Maizière Gut, aber unterschiedlich. Ich erlebe ein politisiertes Land, mit regional so unterschiedlichen Akzenten wie noch in keinem Wahlkampf, den ich mitgemacht habe. Bei einigen ist der Wohnungseinbruch ein großes Thema, bei anderen überhaupt nicht. Gerade wo wenige Muslime leben, herrscht häufig Angst vor Überfremdung, etwa in Teilen der östlichen Bundesländer. In Nordrhein-Westfalen höre ich das eher nicht. Die Stimmungslage ist differenziert, auch die Fragen der Zuschauer in den Veranstaltungen zeigen das. Es gibt keine breite Ablehnung von Flüchtlingen, aber es gibt berechtigte Nachfragen, wie wir etwa Integration und Rückführung bewältigen wollen. Ansonsten: Die Säle sind voll, die Stimmung ist gut.

Und Angela Merkel bleibt Kanzlerin?

De Maizière Davon gehen die meisten aus, mit denen ich spreche. Das ist aber auch gefährlich, weil wir uns nicht in Siegesgewissheit wiegen sollten. Wir müssen bis zuletzt für die Union kämpfen. Für Deutschland wäre es jedenfalls die beste Wahl.

Sagen Sie wie die Kanzlerin, dass Sie in der Flüchtlingspolitik alles genauso wieder machen würden?

De Maizière Natürlich würde ich aus der heutigen Sicht einige Dinge anders machen.

Das ist ein Unterschied zur Kanzlerin.

De Maizière Nein. Auch die Kanzlerin hat etwa gesagt, dass wir zu lange zugeschaut haben, wie in den Flüchtlingscamps immer weniger Gelder zur Verfügung standen. Es gibt aber noch ein paar Dinge, die ich heute differenziert sehe. Wir standen im Sommer 2015 sehr unter Druck, Prognosen über die zu erwartenden Flüchtlinge abzugeben, damit die Kommunen planen können. Als ich dann im August 2015 die Zahl von 800.000 Flüchtlingen nannte, haben die Schlepper, vor allem in Afghanistan, dieses Zahl instrumentalisiert und den Menschen vermittelt, das sei eine Einladung, dass Deutschland auf jeden Fall 800.000 Afghanen willkommen heiße. Die Schlepper waren oft die Treiber der Entwicklung. Die Prognose würde ich heute nicht mehr oder zumindest nicht mehr so machen. Die zweite Erkenntnis ist: Politik sollte sich nicht zu sehr von kurzfristigen Stimmungsschwankungen beeindrucken lassen. Wir müssen immer nüchtern bleiben, so nachvollziehbar Stimmungen auch sein mögen. Im September haben ja alle die Flüchtlinge willkommen geheißen. Die Kanzlerin hat niemandem "befohlen", in München am Hauptbahnhof zu klatschen. Nach der Kölner Silvesternacht waren plötzlich angeblich alle Flüchtlinge Straftäter.

Glauben Sie, dass viele Deutsche damals auf der richtigen Seite stehen wollten?

De Maizière Das ist eine berechtigte Frage. Wahrscheinlich haben auch solche Gefühle damals eine gewisse Rolle gespielt. Bei einer Fußball-Weltmeisterschaft ist Nationalstolz ja keine Kunst, vor allem nicht, wenn die Mannschaft gut spielt. Aber in dieser sensiblen Frage, die Humanität als oberstes Gebot anzuerkennen und auch danach zu handeln, das war sicher besonders.

Und Sie wollten die Grenzen auch nicht wieder schließen?

De Maizière Es ist schon zweifelhaft, ob eine Grenzschließung rechtlich überhaupt zulässig ist. Wir haben damals dennoch alle Szenarien durchgespielt, aber uns am Ende auch aus anderen Gründen dagegen entschieden, an der deutsch-österreichischen Grenze asylsuchende Menschen zurückzuweisen. Das waren so große Zahlen, und zur Durchsetzung einer solchen Zurückweisung hätte es im Extremfall auch des Einsatzes von Zwangsmitteln bedurft, auch gegen Familien mit Kindern.

Dass die Kanzlerin die Ungarn-Flüchtlinge im September 2015 durchreisen ließ und die Grenzen offen blieben, war kein zusätzlicher Anreiz?

De Maizière Die Menschen waren doch alle ohnehin bereits unterwegs, sie waren doch schon in Ungarn. Einen enormen Sogeffekt hat aus meiner Sicht vor allem die vorherige Ankündigung der Ungarn, einen Zaun zu bauen, ausgelöst. Die Kanzlerin hat damals übrigens auch auf Bitten des österreichischen Kanzlers und des ungarischen Ministerpräsidenten gehandelt. Und noch eins: Die Grenzen in Europa waren auch vor September 2015 offen!

Danach kam der Kontrollverlust?

De Maizière Mit dem Begriff wäre ich vorsichtig. Die Aufnahme und Verteilung hat Deutschland trotz der großen Zahlen ohne Obdachlosigkeit geschafft. Auch z.B. die Deutsche Bahn hat hier Großes geleistet. Strittig diskutieren kann man über das Thema der Registrierung der Flüchtlinge, da gab es Abstimmungsprobleme und Informationsverluste. Vor allem die Betroffenen an den Grenzen wollten, dass wir erst verteilen und dann registrieren. Das Problem mit den dann nachgeholten Registrierungen war, dass sie nicht für alle Behörden nutzbar waren. Weder durften wir das rechtlich noch konnten wir das technisch. So wusste zum Beispiel die Hamburger Behörde nicht, ob ein Flüchtling vorher bereits in Düsseldorf war. Das haben wir dann sehr schnell geändert und einen vollständigen Überblick zurückgewonnen.

Und heute ist die Flüchtlingsfrage im Griff und rechtlich alles getan, was getan werden musste?

De Maizière Wir haben in der großen Koalition sehr schnell sehr viel verbessert, nicht nur bei der Registrierung von Flüchtlingen, sondern auch bei der Integration, der Abschiebepraxis, der Zusammenarbeit zwischen Bund, Ländern und Kommunen. Das Migrationsthema ist ein Jahrhundertthema, das uns lange beschäftigen wird. Europa muss den Zuzug der Flüchtlinge gemeinsam ordnen, steuern und begrenzen.

Was müsste eine neue Bundesregierung als Erstes anstoßen in der EU?

De Maizière Das Schlepperwesen muss beendet werden, dazu bedarf es vor allem einer stringenten Außen- und Entwicklungspolitik sowie des Schutzes der Außengrenzen. Was wir als Nächstes brauchen, ist ein wirklich einheitliches Asylsystem in Europa. Das verhandeln wir gerade in der EU. Es kann nicht sein, dass die Standards so unterschiedlich sind zwischen Rumänien, Finnland, Portugal oder Deutschland. Deutschland ist das Land, in dem die meisten leben wollen, auch weil unsere Verfahrens- und Aufnahmebedingungen im europäischen Vergleich großzügig sind und die Leistungen für Flüchtlinge im EU-Vergleich ziemlich hoch. Das ist Teil des Sogeffekts nach Deutschland.

Also sollten die Standards einheitlich, aber auf niedrigerem Niveau sein?

De Maizière Asylverfahren und Asylbewerberleistungen müssen in der EU einheitlicher sein als bisher. Die Anerkennungsquoten sind bei uns zum Teil höher als anderswo und das Sozialleistungsniveau auch. Natürlich sind die Lebenshaltungskosten bei uns auch höher als in Rumänien. Man könnte sich im Rahmen einer Angleichung aber auf entsprechende Kaufkraftzuschläge für einzelne Staaten verständigen. Außerdem brauchen wir einen einheitlichen Rechtsschutz: Bei uns können abgelehnte Asylbewerber über diverse rechtliche Klagewege ihre Abschiebung hinauszögern, deutlich mehr als anderswo. Bei vielen dieser Themen haben wir auf EU-Ebene inzwischen schon Einigkeit erzielt. Das wird natürlich auch das deutsche Asylsystem beeinflussen.

Ungarn will das EuGH-Urteil zur Flüchtlingsverteilung nicht akzeptieren. Was nun? Warten, bis in Budapest jemand anderes regiert?

De Maizière Es ist natürlich nicht haltbar, dass sich ein EU-Mitgliedsstaat nicht an ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs hält. Ich werbe aber für Zurückhaltung im Ton, allerdings nicht in der Sache. Die Sorge, dass alle, die nach Europa kommen, verteilt würden, ist ja unbegründet. Es geht doch nur um die Verteilung der Schutzbedürftigen. Das ist ein zentraler Unterschied. Je geringer die Zahl derer ist, die nach Europa kommen, desto höher wird die Neigung der Osteuropäer sein, sich an einer Verteilung zu beteiligen. Deswegen müssen wir die Zahl der Flüchtlinge insgesamt reduzieren.

Was kann man tun?

De Maizière Öffentliche Drohungen helfen nicht. Ein Staat kann sich nicht einem Urteil des EuGH widersetzen. Andernfalls muss die Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren einleiten. Das ist der richtige Weg.

Wie lassen sich Gefährder strenger und intensiver überwachen?

De Maizière Wir haben schon sehr viel verbessert. Denken Sie etwa an die von uns eingeführte Fußfessel-Überwachung, das neue BKA-Gesetz und den Personalaufbau bei den Bundessicherheitsbehörden. All das müssen die Länder jetzt in ihrem Verantwortungsbereich nachvollziehen. Außerdem haben wir im gemeinsamen Terrorabwehrzentrum ein neues Modell eingeführt, wie man Gefährder besser einschätzen kann. Und wir können die operativen Maßnahmen mit den Ländern nun verbindlich absprechen. Das alles ist ein großer Fortschritt.

Europaweit sieht es anders aus. Die Attentäter von Barcelona konnten unbehelligt umherreisen, obwohl sie die spanische Polizei als Gefährder eingestuft hatte.

De Maizière Auch hier haben wir wesentliche Verbesserungen durchgesetzt. So gibt es im Schengener Informationssystem die Kategorie "Foreign Fighter". Damit können wir gefährliche Menschen deutlich besser überwachen. Es werden auch schon viel mehr Informationen ausgetauscht.

Also bleibt erst einmal nichts weiter zu tun?

De Maizière Oh doch. Noch immer beteiligen sich nicht alle Mitgliedstaaten so gut am Datenaustausch wie ich es mir vorstelle. Außerdem haben wir noch immer getrennte Datentöpfe. Die Datei Eurodac enthält Fingerabdrücke der geflüchteten Personen, aber keine Namen. Im Schengener Informationssystem ist es genau umgekehrt.

Lässt sich das nicht leicht ändern?

De Maizière Politisch herrscht inzwischen - leider erst nach den Terroranschlägen - Einigkeit, und das ist ein Durchbruch. Technisch bestehen aber noch große Probleme, dass von Portugal bis Finnland, von Italien bis Polen die Daten so aufbereitet werden, dass man mit einer Abfrage sofort überall die Identität der Person feststellen kann.

Man hätte diesen Missstand doch schon längst angehen können ...

De Maizière ... aber in der Vergangenheit wurden alle Initiativen spätestens im Europäischen Parlament gestoppt. Es mussten erst Anschläge in Paris und Brüssel passieren, bevor es dafür politische Mehrheiten gab.

Brauchen wir nach der Wahl eigentlich eine neue Föderalismus-Kommission, die die Zuständigkeit im Bereich innere Sicherheit neu justiert?

De Maizière Wir brauchen trotz der Erfolge, die wir schon erzielt haben, in jedem Fall eine neue Dynamik, um die sehr guten Ansätze in Richtung gemeinsamer Standards aus der letzten Zeit zur Umsetzung zu bringen. Ich denke dabei etwa an das vereinbarte Musterpolizeigesetz, das vom ersten bis zum letzten Paragrafen für alle Bundesländer einheitlich sein soll. Dann könnte jedes Land zwar nach eigenen Vorstellungen davon abweichen. Aber diese Abweichungen müsste das Land vor seinen Bürgerinnen und Bürgern dann verdammt gut begründen. Zudem ist das Polizeiinformationssystem, das vor 40 Jahren eingeführt wurde, auf eine völlig neue Grundlage zu stellen. Das alles haben wir auf den Weg gebracht und dürfen in der Umsetzung nicht nachlassen. Ich würde mir wünschen, dass wir auch bei Cyberangriffen ein gemeinsames Abwehrzentrum schaffen, und hier nicht jedes Land einzeln vor sich hin arbeitet.

Wäre ein einziges zentrales Amt für Verfassungsschutz eine Lösung?

De Maizière Ich habe meine Vorschläge in dieser Richtung schon gemacht. Die Länder müssen zumindest stärker kooperieren. Es müssen gemeinsame Standards vorliegen, verbindliche Absprachen. Und es darf insgesamt keine Zonen unterschiedlicher Sicherheit geben — weder bei der Organisierten Kriminalität, beim Terror noch bei Cyberverbrechen.

Kanzlerin Merkel wurde wiederholt Opfer von Pöbeleien, Tomatenwürfen und üblen Beschimpfungen. Auch andere Wahlkämpfer werden so traktiert. Müssen wir das als Meinungsfreiheit hinnehmen?

De Maizière Bei Tomatenwürfen und Tätlichkeiten hört es auf. Es wird ermittelt. Pfeifen und Niederbrüllen offenbart eine schlechte Kinderstube, aber nicht unbedingt eine Straftat. Wir müssen genau hinschauen.

Machen Ihnen solche Wahlkämpfe noch Spaß?

De Maizière Solche Anstandslosigkeiten lehne ich ab. Aber das ist nichts Neues: Helmut Kohl und Helmut Schmidt wurden auch ausgebuht nach dem Nato-Nachrüstungsbeschluss.

Diese Art der Debatte ist traurig, aber nicht zu verhindern?

De Maizière Mir gefällt das nicht, aber verboten sind Pfiffe nicht. Bei einer Veranstaltung in Buchholz ist mir indes die Hutschnur geplatzt. Da haben angebliche Vaterlandsfreunde der AfD ausgerechnet bei der Nationalhymne gebuht und gepfiffen. Da hört es auf. Und da müssen sich alle fragen, ob eine solche Partei wählbar ist, die bei unserer Hymne pfeift und zugleich von deutschen Interessen redet.

Was ist für die deutsche Sicherheit besser — ein schwarz-grünes oder ein schwarz-gelbes Bündnis?

De Maizière Ich muss sagen, dass vieles, was wir mit der SPD innenpolitisch erreicht haben, so mit der FDP und den Grünen auf Bundesebene wohl nicht erreichbar gewesen wäre. Leider auch bei der SPD häufig erst nach zähem Ringen und dadurch einige Male erst mit deutlichem Verzug. Verstehen Sie das aber nicht als eine Koalitionsaussage zugunsten der SPD. In anderen Bereichen sieht es ganz anders aus.

Sondern?

De Maizière Weder wir noch die SPD wollen die große Koalition fortsetzen. Das ist nicht gut für die Demokratie. Aber in meinem Aufgabenbereich würde es schwieriger mit Grünen oder Liberalen.

In Baden-Württemberg und in Nordrhein-Westfalen klappt es doch ganz gut.

De Maizière Das stimmt auf Landesebene. Leider lehnen die Bundesgrünen das alles bisher ab. Und Ähnliches gilt auch für die FDP. Für die Sicherheit ist es gut, wenn sich die Union für ein Zweierbündnis entscheiden könnte.

Mit Ihnen als Innenminister?

De Maizière Jetzt hat erst einmal der Wähler das Wort. Danach kommen die Inhalte, und erst dann kommt das Personal.

Michael Bröcker und Martin Kessler führten das Gespräch.

(brö / kes)
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