Jerusalem "Frieden gibt es erst, wenn der Messias kommt"

Jerusalem · Provokationen, Krawalle, Attentate: In Jerusalem schaukelt sich die Gewalt zwischen Israelis und Palästinensern immer weiter hoch.

Wer an der Haltestelle von Schoafat spontan in die Stadtbahn von Jerusalem einsteigt, muss schwarzfahren. Der Ticket-Automat ist komplett zerstört, und in der Bahn kann man den Fahrschein nur abstempeln, aber keinen kaufen. Direkt neben der Haltestelle, an der israelische Sicherheitsleute Posten beziehen, ist die Moschee, in der Mohammed Abu Chdeir täglich betete. Das Elternhaus des 16-jährigen Palästinensers liegt keine zehn Meter entfernt. Nur ein paar Schritte musste der Junge laufen. Seinen Mördern reichte das kurze Stück, um ihn einzufangen. Als seine Leiche entdeckt wird, lassen Mohammeds Freunde, seine Familie und Nachbarn ihre Wut an dem Ticket-Automaten aus und an den israelischen Soldaten, mit denen es immer wieder zu Straßenkämpfen kommt in Schoafat, wie in Silwan und auf dem Tempelberg.

Der grausame Mord an Mohammed Abu Chdeir, den radikale ultraorthodoxe Juden vor vier Monaten lebendig verbrannten, war der Auslöser, der die latente Unruhe in Jerusalem erstmals zur Explosion brachte. Seither heizt eine Serie politischer Gewaltakte und Provokationen die Eskalation zwischen Israelis und Palästinensern, zwischen Juden und Muslimen weiter an. Dazu gehört der demonstrative Einzug national-religiöser Juden in das palästinensische Viertel Silwan, die Entscheidung von Israels Regierung zum Bau einer neuen Siedlung in Ost-Jerusalem und schließlich der versuchte Mordanschlag gegen den jüdischen Tempelberg-Aktivisten Jehuda Glick. Kein Wunder, dass das Wort von einer neuen Intifada immer stärker die Runde macht.

Die sonst eher moderate Partei des palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas erklärte einen "Tag des Zorns", weil Israel den Tempelberg nach dem Mordversuch an Jehuda Glick für ein paar Stunden gesperrt hatte. Abbas nannte diese Sicherheitsmaßnahme der Polizei eine "Kriegserklärung". Vollkommen abgeriegelt war der Tempelberg zuletzt vor 14 Jahren. Damals entfachte der Besuch von Israels damaligen Oppositionsführer Ariel Scharon die blutige Gewaltwelle der zweiten Intifada.

Begrenzte Besuchsrechte der Moschee

Seither wird der Zugang zum Tempelberg immer wieder teilweise beschränkt. Um Randale zu vermeiden, werden häufig nur ältere Gläubige durchgelassen — jüngere Männer müssen draußen bleiben. Doch diese begrenzten Besuchsrechte der Moschee schüren den Unmut unter den Palästinensern. Israel habe dafür zu sorgen, "dass alle Muslime in der Al-Aksa-Moschee beten dürfen", sagt Mustafa Abu Sway, Islamwissenschaftler an der Ost-Jerusalemer Al-Quds-Universität. Zuletzt hätten die Sicherheitskräfte immer wieder Beschränkungen festgelegt. "Einmal dürfen nur über 50-Jährige beten, ein andermal dürfen die Frauen nur am Nachmittag kommen", schimpft Abu Sway. Als Besatzungsmacht sei Israel dafür verantwortlich, die heiligen Stätten aller Religionen zu schützen. Jüdische Tempelberg-Aktivisten, wie Jehuda Glick und andere radikal-jüdische Gruppen, die auf die Vertreibung der Muslime vom Tempelberg abzielen, gießen mit ihren Forderungen zusätzlich Öl ins Feuer.

Am Fuß der heiligen Gebetsstätte, gleich hinter den Mauern der Altstadt, beginnt Silwan, das mit rund 50 000 Palästinensern dicht bewohnte Stadtviertel, in dem einst der jüdische König David gelebt und gewirkt haben soll. Die radikale Siedlerorganisation Elad managt mit Einverständnis von Regierung und Stadtverwaltung den archäologischen Park der "Ir David", zu deutsch: "Stadt Davids". Weil die öffentliche Anlage ausgebaut werden soll, sollen 88 Häuser, die rund 1500 Palästinenser beherbergen, abgerissen werden. Erst vor kurzem kamen die Bulldozer, um ein Haus dem Erdboden gleichzumachen, das offenbar ohne Baugenehmigung errichtet worden war.

"Doch viele der vom Abriß bedrohten Häuser stammen aus der Zeit von vor 1967", als Silwan noch unter jordanischer Kontrolle stand, berichtet Fakhri Abu Diab, Aktivist des palästinensischen Komitees zum Schutz der Häuser von Silwan. Das Argument, es liege keine Baugenehmigung vor, könne da kaum geltend gemacht werden. Die Räumungskommandos seien "mit großem Sicherheitsaufgebot und sogar Hunden" gekommen, um die Bulldozer vor eventuellen Protestaktionen zu schützen.

"Sie kaufen Bulldozer, um unserer Häuser abzureißen"

Die Straßen von Silwan sind schmutzig, in manchen Ecken riecht es unangenehm nach Abwasser. Leere Plastiktüten und Konservendosen liegen auf dem Bürgersteig. "Wir zahlen städtische Abgaben", schimpft Abu Diab, "aber anstatt unseren Müll wegzuräumen, kaufen sie Bulldozer, um unsere Häuser abzureißen." Dass der Unmut vor allem sehr junger Palästinenser nun fast täglich in Straßenkämpfe mündet, schiebt der 52-Jährige dem Zuzug von dutzenden national-religiösen Israelis zu. An ihren drei Häusern wehen provozierend mehrere übergroße blau-weiße israelische Nationalflaggen.

Die Siedler kommen in kugelsicheren Autos, ihre Häuser werdenrund um die Uhr bewacht. "Wenn sie hier sind, ist die Atmosphäre angespannt", sagt Abu Diab, der froh ist, dass seine eigenen Kinder erwachsen sind und an den Protesten nicht mehr teilnehmen. Seit Beginn der Unruhen Anfang Juli gab es hunderte Verhaftungen. Rund 250 Minderjährige wurden für Tage, manchmal sogar Wochen festgehalten. Israels Justiz messe mit zweierlei Maß, klagen die Palästinenser. Der palästinensische Autofahrer Abdel Rahman Schaludi, der Ende Oktober in eine Menschenmenge raste, ist noch am Ort des Attentats erschossen worden. Viele Palästinenser behaupten freilich, dass er gar keinen Anschlag plante, sondern lediglich die Kontrolle über sein Auto verlor. Umgekehrt starb eine Woche vor dem Zwischenfall ein fünfjähriges palästinensisches Mädchen bei dem Zusammenstoß mit einem Auto, dessen Fahrer anschließend Fahrerflucht beging. Bis heute ist unklar, ob es ein Unfall war, oder ob der Israeli das Mädchen gezielt überfuhr.

Die Haltestelle, an der Schaludi zwei Menschen tötete, liegt direkt an der alten Grenze zwischen Israel und Jordanien. Vor drei Jahren nahm die Stadt die Bahn in Betrieb, die von der Altstadt aus weiter Richtung Schoafat führt und von dort aus bis zur Siedlung Pisgat Seew. Der 68-jährige Abraham Krieger fährt jeden Tag mit der Bahn von der Siedlung aus zur Tora-Schule nach Jerusalem. Der Zug werde oft mit Steinen angegriffen, wenn er durch Schoafat fährt. "Von uns hat keiner verstanden, warum die Bahn ausgerechnet hier lang fährt", sagt der fromme Jude, der vor 45 Jahren aus den USA einwanderte und noch immer mit breitem amerikanischen Akzent Hebräisch spricht.

Keine Annäherung in Sicht

Die Bahn war als Mittel zur friedlichen Koexistenz konzipiert, das beide Völker nutzen würden. "Das ist es immer noch", meint Krieger, der beobachtet haben will, "wie Palästinenser für ältere Israelis ihren Sitzplatz räumen und auch umgekehrt". Pisgat Seew als israelische Siedlung zu bezeichnen, hält er für Unsinn. "Das hier ist Jerusalem", meint er und fragt, ob Israel denn alles Land zurückgeben solle. Frieden werde es so oder so erst geben, "wenn der Messias kommt".

Zwei Haltestellen weiter in Richtung Jerusalem schneidet Siad Abu Chdeir, ein entfernter Onkel des ermordeten Mohammed, Fleisch vom Drehspieß. "Es gibt kein Zusammenleben, keine friedliche Koexistenz", meint Abu Chdeir. "Wir sind zu unterschiedlich, sozial, in unserer Mentalität, wir sind keine Israelis, sondern Palästinenser und stolz darauf." Nur eine Trennung könne eine Beruhigung bewirken, nur "zwei Staaten für zwei Völker".

(RP)
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