Nach dem Referendum Verfassungsreform abgelehnt — nun herrschen italienische Zustände

Rom · Italien leidet seit Jahrzehnten an seinem parlamentarischen System, das für instabile Regierungen sorgt und Entscheidungen erschwert. Am Sonntag stand erstmals eine radikale Reform zur Abstimmung. Und sie wurde abgelehnt.

 Abgestrafter Matteo Renzi: Kündigte seine Rücktritt an

Abgestrafter Matteo Renzi: Kündigte seine Rücktritt an

Foto: afp

Man wird nie genau wissen, wie viele der italienischen Wähler beim gestrigen Referendum wirklich über die Frage einer Verfassungsreform abgestimmt haben und wie viele den Urnengang nur genutzt haben, um ihrer Unzufriedenheit mit der Regierung von Ministerpräsident Matteo Renzi Ausdruck zu verleihen. Dabei dürfte eine Mehrheit der Italiener sogar mit dem Regierungschef übereinstimmen, dass eine Reform der staatlichen Institutionen unverzichtbar ist. Auch wenn Renzis Vorschlag vielen dann doch sehr radikal schien: Gleich 46 von 139 Verfassungsartikeln zu ändern, das ist eine Operation am offenen Herzen.

Renzi hatte argumentiert, nur so könnten lähmende Strukturen beseitigt und vor allem die Dauerblockade im Parlament beendet werden, die Italiens politisches System seit beinahe sieben Jahrzehnten zum instabilsten in Europa machen. Viele Regierungen kämpfen, kaum gewählt, schon wieder ums Überleben, weil sie anders als in anderen europäischen Staaten von beiden Kammern bestätigt werden müssen und auch jedes Gesetz von beiden Kammern verabschiedet werden muss. Ein zweiter Unsicherheitsfaktor ist die Zersplitterung der parlamentarischen Mehrheiten. Teilweise bildeten bis zu 17 Parteien die Regierungskoalition - was auch die Korruption begünstigt.

So scheiterte 2008 die Regierung von Romano Prodi, der überraschend Silvio Berlusconis Koalition bei der Wahl übertrumpft hatte, weil eine Handvoll Senatoren verschiedener Kleinparteien plötzlich das Lager wechselte. Einer der Wendehälse gestand sogar, drei Millionen Euro für seinen plötzlichen Sinneswandel erhalten zu haben. Berlusconi wurde deshalb 2015 wegen Korruption in erster Instanz zu drei Jahren Haft verurteilt. Wegen Verjährung wurde das Urteil jedoch nie rechtskräftig.

Extremes Zweikammersystem

Solche in der Vergangenheit gerne als typisch italienisch bezeichneten Zustände sind durch das System programmiert. Hier ergänzte sich auf unglückliche Weise das extreme Zweikammersystem, nach dem Abgeordnetenhaus und Senat der Regierung das Vertrauen aussprechen und jedes Gesetz bis aufs letzte Komma identisch verabschieden müssen, mit dem Wahlrecht. Das Problem waren auch zwei verschiedene Mechanismen der Wahl von Abgeordnetenhaus und Senat. In den Kammern herrschten deshalb stets unterschiedliche Mehrheitsverhältnisse.

Ein zweiter entscheidender Faktor ist das Wahlrecht, das in Italien lange einen falsch verstandenen Pluralismus spiegelte. Die Idee, jede politische Idee oder jede Klientel müsse im Parlament repräsentiert sein, förderte enorme institutionelle Schwierigkeiten und ständigen Wechsel an der Macht. Italien trat damit insbesondere seit Beginn der 90er Jahre auf der Stelle. Ohne eine effektive Hürde für den Einzug ins Parlament bestimmten Kleinparteien über Jahre hinweg das Schicksal der Republik. In 70 Jahren seit dem Krieg brachte es Italien auf 63 Regierungen. Oft bekamen Ministerpräsidenten ein zweites Mandat, wenn sie ihre Regierung umbauten und zuvor den Rücktritt einreichten.

Silvio Berlusconi hält bis heute den Rekord der Langlebigkeit im Amt. Seine erste Regierung von 1994 scheiterte zwar bereits nach acht Monaten. Seine zweite Amtszeit aber dauerte beinahe vier Jahre von 2001 bis 2005, die dritte nochmals dreieinhalb (2008 bis 2011). Die christdemokratischen Großmeister in der Disziplin politischer Überlebenskunst in Italien waren Alcide De Gasperi (1881-1954) und Giulio Andreotti (1919-2013). Beide standen insgesamt sieben Regierungen vor und hielten sich mit Unterbrechungen jeweils weit über 2000 Tage im Amt.

Aufblühen der Fünf-Sterne-Bewegung

Aus diesen Erfahrungen und der Unbeständigkeit als bestimmendem Prinzip wuchs bereits in den 70er Jahren das Bewusstsein, dass das politische System in Italien verändert werden muss. Nach verschiedenen fehlgegangenen Versuchen und gescheiterten Reformplänen machte es sich insbesondere der heute 91 Jahre alte ehemalige Staatspräsident Giorgio Napolitano seit seiner ersten Wahl im Jahr 2006 zur Aufgabe, auf eine Reform der Parlaments zu dringen. Vor seiner Wiederwahl 2013 machte Napolitano institutionelle Reformen gar zur Bedingung für eine erneute Kandidatur. Namentlich sollten der chronisch komplizierte parlamentarische Entscheidungsmechanismus verändert sowie ein neues Wahlgesetz geschaffen werden.

Anfang 2015 trat Napolitano aus Altersgründen zurück, aber auch, weil er mit Matteo Renzi den von ihm geforderten Kurs verwirklicht sah. Der junge Ministerpräsident und dessen Vorgänger Enrico Letta hatten institutionelle Reformen auf den Weg gebracht. Renzi gelang es sogar, nach zehn Jahren des Stillstands ein neues Wahlgesetz verabschieden zu lassen, in dem das extreme Verhältniswahlrecht abgelöst wurde.

Bislang war die Masse der im Parlament vertretenen Parteien das Problem gewesen. 2014 einigten sich der von Renzi geführte Partito Democratico mit Berlusconis Forza Italia auf ein für ein Zweiparteiensystem zugeschnittenes Wahlrecht. Eine Stichwahl zwischen den beiden stärksten Kräften sollte einen klaren Wahlsieger bestimmen. Ein satter Mehrheitsbonus für die stärkste Partei wurde eingeführt.

Unterschätzt wurde dabei aber das Aufblühen der Fünf-Sterne-Bewegung unter dem Komiker Beppe Grillo. Sie hatte 2013 aus dem Stand bei der Parlamentswahl 25 Prozent der Stimmen geholt. Seither wird die Politik in Italien von drei politischen Blöcken bestimmt. Das neue, seit 1. Juli 2016 geltende Wahlrecht ist jedoch auf ein herkömmliches Zwei-Block-System ausgerichtet, nach dem sich Rechte und Linke an der Macht abwechseln und mit eindeutigen Mehrheiten regieren können. Schon vor dem Referendum gestern stand daher fest, dass das Wahlrecht in jedem Fall sehr bald neu verhandelt werden muss.

(bee)
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