Neapel Italiens "Kinder der Madonna" begehren auf

Neapel · Adoptivkinder haben bis heute offiziell keine Möglichkeit, etwas über ihre Herkunft zu erfahren.

Als Kind wurde Anna Arecchia jeden Abend geschickt, um Milch zu holen. "Du bist eine Tochter der Madonna", sagte die Milchfrau zu ihr. "Figli della Madonna", so nannte man in Italien die Kinder, die von ihren Müttern kurz nach der Geburt in Findelheimen abgegeben wurden. Meist adoptierten kinderlose Paare die Kleinen, ohne ihnen davon zu erzählen. Unehelich geborene Säuglinge waren noch im vergangenen Jahrhundert eine große Schande. Noch in den 50er Jahren kamen in Italien pro Jahr etwa 5000 "Findelkinder" zur Welt.

Arecchia ist heute 54 Jahre alt. Als Heranwachsende erinnerte sie sich an die Worte der Milchfrau und vermutete, dass ihre Eltern nicht ihre leiblichen Eltern sein könnten. Als sie mit 20 heiraten wollte, beantragte sie beim Standesamt in Neapel ihre Geburtsurkunde. "Geboren von einer Frau, die ihren Namen nicht nennen will", stand dort geschrieben. "Eine Welt brach für mich zusammen", sagt Arecchia.

In Italien müssen Adoptivkinder 100 Jahre warten, bis sie einen rechtlichen Anspruch auf das Wissen über ihre biologischen Ursprünge bekommen - eine Farce. Erst vor Kurzem wurde ein Gesetzentwurf eingebracht, der das Prozedere ändern soll. Arecchia sitzt in einem Café in der Kleinstadt Caserta bei Neapel. Die Mathematiklehrerin ist Mitgründerin des "Komitees für das Recht auf die biologischen Ursprüngen". In der Hand hält sie ein abgegriffenes Madonnenbild, zur Hälfte abgerissen. "Das Bild ist genau an der Brust der Madonna abgerissen, an ihrem Herzen. Wie ein gebrochenes Herz", sagt Arecchia. Sie ist sich sicher, dass ihre leibliche Mutter die andere Hälfte behalten hat.

Noch im vergangenen Jahrhundert waren anonyme Geburten an der Tagesordnung. Meist sehr junge, manchmal vergewaltigte oder in außerehelichen Beziehungen geschwängerte Frauen wollten oder konnten die gesellschaftliche Schmach eines unehelichen Kindes nicht ertragen. Die Folgen spüren Arecchia und Tausende andere "Kinder der Madonna" bis heute. Die absurde 100-Jahre-Regel sei "der Versuch einer immer noch katholisch geprägten Gesellschaft, das Bild einer heilen, aber in Wahrheit viel komplizierteren Welt auf Kosten der Adoptivkinder aufrechtzuerhalten", sagt Maria Virginia Volpe, die ebenfalls als Kleinkind adoptiert und nie darüber aufgeklärt wurde.

Heute gibt es etwa 400 000 Adoptivkinder in Italien, und besonders viele Frauen zwischen 50 und 60 aus dem Raum Neapel sind bis heute auf der Suche nach der Identität ihrer leiblichen Eltern. Das liegt an den Tausenden anonymen Geburten im Annunziata-Krankenhaus von Neapel. Mütter aus ganz Süditalien brachten hier ihre Säuglinge zur Welt. "Mir wurde gesagt, meine leibliche Mutter habe mich nicht gewollt", erzählt Maria Virginia Volpe, heute 61 Jahre alt. "Als ich vor sieben Jahren endlich den Mut fand nachzuforschen, entdeckte ich, dass meine Mutter, die sich in einen verheirateten Professor verliebte und von ihm schwanger wurde, versucht hatte, mich zurückzuholen. Aber man sagte ihr, ich sei von amerikanischen Bauern adoptiert worden, dabei war ich bei einem Ehepaar in Neapel."

Auch Anna Arecchia erfuhr schließlich die Wahrheit. Ihre Mutter war mit 21 von einem verheirateten Mann schwanger geworden und ließ Anna im Annunziata-Krankenhaus zurück. Mit 56 Jahren starb sie in Kanada. Ihren Vater lernte Arecchia hingegen kennen. Er lebte in einem Dorf nicht weit von Caserta. Sie trafen sich; das Verhältnis sei gut gewesen. Dann starb der Vater. Nur eines will Anna Arecchia bis heute nicht in den Kopf: Das ganze Dorf habe über ihre Herkunft Bescheid gewusst. "Nur ich selbst hatte kein Recht darauf, meine Ursprünge zu kennen."

(RP)
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