Plains Jimmy Carter - der vergessene Präsident

Plains · Bei Philip Kurland gibt es noch Comic-Hefte aus den 30er Jahren, als Superman gerade erfunden war. Die pittoreske Ladenzeile an der Main Street lässt an ein Freilichtmuseum denken, Plains im US-Bundesstaat Georgia scheint gefangen in einer Zeitblase. Und dann erst der Bahnhof: Das Depot der Seaboard Coast Line Railroad, ein besserer Schuppen, war einmal Wahlkampfhauptquartier, kaum zu glauben, stünde es nicht in weißen Lettern an der Bretterfassade. Drinnen lassen Poster erkennen, wie locker selbstironisch es einmal zugegangen sein muss in der heute so verbissenen amerikanischen Politik: "The Grin Will Win!" - gemeint ist, dass Carters breites Grinsen gewinnen wird. Und daneben: "Jimmy Who?"

Die Episode dazu ist glaubhaft überliefert, aus New Hampshire, wo die Aussichtslosen unter den Bewerbern fürs Weiße Haus in weichenstellenden Vorwahlen aussortiert werden. "Hi, ich bin Jimmy Carter, und ich möchte Präsident werden", stellte sich der Kandidat in einem Imbisslokal vor. Worauf der Besitzer, ein gewisser Lloyd Robie, völlig baff fragte: "Jimmy Who?"

Kein Wunder, dass sie in Plains so groß darauf herumreiten. Eine treffendere Anekdote kann es kaum geben für den kometenhaften Aufstieg des Farmersohns, von den lehmroten Erdnussfeldern Georgias bis ins Oval Office. Im fernen Washington dagegen scheint Carter so gründlich vergessen, wie Plains zurückfiel in seine Südstaatenschläfrigkeit. In den Hauptstadtdebatten taugt der 39. Präsident meist nur noch als Menetekel für das, was seinen Nachfolgern blühen könnte: Als der Stern Barack Obamas zu sinken begann, stellten die Ersten bald die Frage, ob die Nummer 44 im Weißen Haus wohl das Schicksal der Nummer 39 teile.

Ob Obama als zweiter Jimmy Carter in die Annalen eingehe, ein Symbol amerikanischer Schwäche, amerikanischer Orientierungslosigkeit. Philip Kurland, der engelsgeduldig auf Kunden wartet in seinem "Trading Post" an der Main Street von Plains, findet das alles höchst ungerecht. "Wenn es Schwäche ist, dass man keine Kriege anzettelt, dann kann ich gut leben mit so einer Schwäche." Vielleicht, sinniert Kurland, vor zwei Dekaden zugezogen aus Maryland, war Carter einfach zu ehrlich, zu nachdenklich für die harten Bandagen der Politik.

Der vergessene Präsident? Der große Saal im Carter Center zu Atlanta, der Stiftung, die Dialog und Demokratie in der Welt fördern soll, ist bis auf den letzten Platz besetzt. Das Publikum: im Schnitt deutlich jünger als die Diskutierenden auf der Bühne; man könnte eher an eine Carter-Renaissance glauben. Das Fallbeispiel: Argentinien, die Junta, das Jahr 1977.

Tex Harris lässt seinen sonoren Bass dröhnen. "Wir haben anderen Ländern signalisiert, seht her, wie ihr eure Bürger behandelt, das hat einen Einfluss auf unser Verhältnis zu euch, wir schauen nicht weg. Das war etwas Neues." Harris war Diplomat an der US-Botschaft in Buenos Aires, als die Gegner der argentinischen Generäle zu Tausenden spurlos verschwanden. Er hielt Kontakt zu den Familien der Vermissten, unterrichtete Washington, informierte die Presse. "Vorher schickten wir die Marineinfanterie, damit die Militärdiktaturen überlebten. Und ich wies meine Botschafter an, dass sie von nun an Repräsentanten für Menschenrechte sind", bringt Carter den Strategiewechsel auf den Punkt. Viele hätten ihn damals für naiv gehalten, "aber wenn ich mich heute umschaue, dann sehe ich keine Militärdiktatur mehr in Lateinamerika." Langer Atem, Soft Power, eingefahrene Gleise verlassen - so skizziert der 89-Jährige seinen Ansatz.

Fragt man Carter nach den Lehren jener Zeit, schickt er voraus, dass er sicher anecken werde mit seiner Antwort, sei's drum. Mancher habe den verschwundenen Argentiniern einfach das Etikett Kommunist aufgeklebt - und die Sache abgehakt. "Was damals der Kommunist war, ist heute der Terrorist", er könne nur warnen vor Wortkeulen, bei denen man sich nicht mehr die Mühe mache zu differenzieren.

Carter, der Unbequeme. Der Prediger aus Plains, wo er noch heute sonntags Religion unterrichtet in der Maranatha Baptist Church mit ihrem pfeilschlanken Turm, gleich hinter dem bizarren Denkmal einer lächelnden Erdnuss.

Carter, der Moralist. Die USA streiten über die Rolle, die sie in der Welt spielen sollen. Obama definiert sie enger als die meisten seiner Vorgänger seit dem Zweiten Weltkrieg, wofür ihn Falken wie John McCain einen Kapitulationspräsidenten nennen, während linke Demokraten wie libertäre Republikaner der neuen Bescheidenheit applaudieren. Tex Harris findet, dass es nicht schaden könnte, sich in unübersichtlicher Lage auf den Kompass eines Jimmy Carter zu besinnen. Amerika, das Land der Freien, habe die Menschenrechte zwar nicht erfunden. "Aber die Menschenrechte haben Amerika erfunden. Und Carter hat seinen Kurs danach ausgerichtet."

Dann ist da noch Camp David. Ein Theaterstück gleichen Namens erinnert gerade daran, was für ein Kunststück dem scheinbar vergessenen Staatschef damit gelang. 1978 vermittelte Carter den bis dato wichtigsten (und haltbarsten) nahöstlichen Friedensvertrag, den zwischen Ägypten und Israel. Wie er Anwar el Sadat und Menachem Begin in 13 Tagen Waldkaten-Diplomatie, von der Welt abgeschnitten auf seinem Landsitz, zum Kompromiss überredete, wie er jenseits aller Details an sie appellierte, an die Enkel zu denken: "Camp David" spielt das wunderbar nach. Das Drama erfreut sich großen Zuspruchs, vielleicht gibt es ja - mangels vergleichbarer Kraftakte - tatsächlich so etwas wie eine Carter-Nostalgie.

Randall Balmer, Autor der neuesten Carter-Biografie, sieht den Prediger aus Georgia eher als eine Art Latte, an der sich messen lässt, wie dramatisch sich die politische Landschaft verändert. "Carter stand für ein Amerika, von dem alle träumen", meint Balmer. "Er stand für ein Amerika, wie es nichts mehr zu tun hat mit der Realität."

(RP)
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