Abgelehnter Asylbewerber in Köln Jung, integriert, ausreisepflichtig

Navid floh aus Afghanistan, weil er dort wohl nicht überlebt hätte. Jetzt soll er Deutschland wieder verlassen – der Asylantrag des mittlerweile 18-Jährigen wurde abgelehnt. Doch seine Pflegefamilie kämpft.

 Navid (r.) mit seinen Pflegeeltern Babak Tubis und Lisa Gerlach.

Navid (r.) mit seinen Pflegeeltern Babak Tubis und Lisa Gerlach.

Foto: Anne Orthen

Navid floh aus Afghanistan, weil er dort wohl nicht überlebt hätte. Jetzt soll er Deutschland wieder verlassen — der Asylantrag des mittlerweile 18-Jährigen wurde abgelehnt. Doch seine Pflegefamilie kämpft.

Die Hiobsbotschaft erreicht die Familie am Donnerstag, den 18. Mai 2017. Mehr als anderthalb Jahre nach Navids Ankunft in Deutschland — anderthalb Jahre, nachdem der mittlerweile 18-Jährige sein Leben in Afghanistan aufgegeben und in Köln neu angefangen hat. "Eilt sehr!", steht auf dem Briefkopf des Anwaltsschreibens. "Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass Ihr Asylantrag vollständig abgelehnt und Ihnen die Abschiebung in Ihren Herkunftsstaat angedroht wurde." Binnen 30 Tagen soll er das Land verlassen. Doch seine Pflegefamilie will kämpfen — und reicht Klage ein.

In Afghanistan hatten sie ein großes Haus, der Vater einen Kfz-Betrieb, die Mutter war für die fünf Kinder da. Navid fuhr Motorrad, war Kapitän der Fußballmannschaft und fleißig in der Schule. Er hatte ein gutes Leben. Bis er ins Visier der Taliban geriet, als er bei einer Schulveranstaltung einen kritischen Vortrag gegen die Terroristen ablieferte.

Die drohten seinem Vater, erpressten ihn, wollten Navids Auslieferung, ihn zwangsrekrutieren. Sein Vater schickte ihn los. "Geh nach Deutschland, da kannst du lernen", habe er gesagt. "'Allemani', wie wir Deutschland nennen, bedeutet Sicherheit, ein freies Leben", sagt Navid. Über die Flucht will er nicht sprechen. Auch der Familienname soll besser nicht in der Zeitung stehen.

In Deutschland leben seit der Flüchtlingskrise mehr als 60.000 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (im Behördendeutsch: UMF). In Nordrhein-Westfalen sind es nach Angaben des Familienministeriums etwa 12.000, die meisten kamen aus Afghanistan (37 Prozent), Syrien (26 Prozent) und dem Irak (elf Prozent). Viele sind in Obhut der Jugendämter, einige in Pflegefamilien untergebracht. Seit Ende 2015 habe sich der Anteil der 18-jährigen Flüchtlinge mehr als verdoppelt, berichtet der Deutsche Städte- und Gemeindebund.

Schulabschluss im nächsten Jahr

Auch die Jugendämter verzeichneten mehr Volljährige, die größtenteils zunächst in ihrer Obhut bleiben. Unter 18-Jährige gelten als besonders schutzbedürftig und im Asylverfahren als nicht handlungsfähig — was eben auch bedeutet: Spätestens zum achtzehnten Geburtstag muss ein Antrag gestellt werden. Das stellt Behörden auf eine Belastungsprobe. Aber vor allem Betroffene.

Navid sitzt im lichtdurchfluteten Wohnzimmer in Köln-Lindenthal, seinem neuen Zuhause, und starrt ins Leere. Er wirkt abwesend, spricht kaum, was nicht an seinem Deutsch liegt. Seit einem Jahr geht Navid auf ein deutsches Berufskolleg, nächstes Jahr kann er die BF 2 abschließen, das entspricht dem Realschulabschluss der zehnten Klasse. Den Wechsel vom afghanischen zum deutschen Schulsystem samt Ausgleich seines Schulrückstands durch die Flucht hat er fast ohne Zeitverlust geschafft.

"Was habe ich falsch gemacht?"

Lisa Gerlach hat drei unbegleitete minderjährige Flüchtlinge aufgenommen; Haus und Kinderwunsch seien groß genug gewesen. Groß waren auch die Anstrengungen: Gesundheitszeugnis, Führungszeugnis, Fortbildungen, Behördengänge, Probewohnen. 100 Stunden Arbeit vergingen bis zu Navids Einzug im März 2016, und es werden immer mehr. Bereut habe sie es keine Minute.

"Wenn ich zu Hause in Sicherheit wäre, wäre ich nicht hier", sagt Navid. Er habe Ziele gehabt in Deutschland. "Seit dem Bescheid weiß ich nicht, was ich tun soll — was habe ich falsch gemacht?" Zunächst hat er vieles richtig gemacht: schnell Deutsch gelernt, einen Fußballverein und Freunde gefunden, in der Schule aufgepasst. Er wurde ausgezeichnet beim Europäischen Wettbewerb NRW, bei dem es um die Sicht von Migranten auf Europa ging. Navid ist höflich, engagiert - und hat moralische Prinzipien. Als sich beim Fußballspiel die Fouls seiner Kollegen häuften, wollte er die Mannschaft verlassen. Warum er Deutschland verlassen soll, versteht er nicht. Er hat nie gefoult.

Ein Termin, der über das Leben entscheidet

Das Asylgesetz sagt: Schutzberechtigt ist, wer "stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht". Dazu zählen: "Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe, Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Bestrafung und eine Bedrohung des Lebens infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts."

Navid sollte dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) erklären, wieso er schutzbedürftig ist. Dreieinhalb Stunden dauerte die Anhörung; Lisa Gerlach kam als Beistand mit und ihr Partner Babak Tubis, der die afghanische Landessprache Farsi spricht, als Vertrauensdolmetscher. "Ich habe ihn auf diesen Termin mehr vorbereitet als ich mich selbst damals auf mein Abitur", sagt Gerlach. Ein Termin, der über das ganze Leben entscheidet und der für das Bamf Behördenroutine ist: Ein Mitarbeiter macht die Befragung, ein anderer führt Protokoll, am Ende entscheidet ein Dritter.

Wollten sie ihn nicht verstehen?

Monate später kommt der Bamf-Bescheid wie ein kalter Schauer. Navid hatte sich doch so bemüht, sich geöffnet, seine Angst überwunden — und geredet. "Ich glaube, was ich erzählt habe, war gut", sagt er: "Ich weiß nicht, ob sie verstanden haben." Gerlach sagt, das Protokoll habe nicht viel mit der Anhörung zu tun. Sie spricht von groben Fehlern, auch in der zwölfseitigen Begründung zur Asylablehnung. Er habe seine Bedrohung nicht ausführlich genug beschrieben; nicht er sei bedroht, sondern sein Vater. Haben sie ihn nicht verstanden? Wollten sie ihn nicht verstehen? Hat das System? Lisa Gerlach zweifelt.

Jeden zweiten Asylantrag afghanischer Flüchtlinge lehnt das Bamf mittlerweile ab. Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) hatte das Land Ende vergangenen Jahres für "in Teilen sicher" erklärt und ein umfassendes "Rückkehrer-Programm" gestartet. Seitdem gibt es Sammelabschiebungen und Geld für diejenigen, die selbstständig ausreisen. Aus NRW gab es 2016 laut Innenministerium 14 Abschiebungen und 459 "freiwillige" Ausreisen nach Afghanistan.

"Rückführungen im Einzelfall möglich"

"Abschiebungen auch nach Afghanistan sind nichts weiter als die Durchsetzung geltenden Rechts", sagt der innenpolitische Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag, Stephan Mayer. "Wir haben großzügige Regeln, wer zu uns kommen und hier bleiben darf. Wer nicht unter diese Regeln fällt, muss Deutschland wieder verlassen." Angesichts der uneinheitlichen Sicherheitslage prüfe man Einzelfälle aber "besonders sorgfältig".

Der außenpolitische Sprecher derselben Fraktion, Jürgen Hardt, betont, dass sich die Sicherheitslage in den vergangenen 16 Jahren auch durch deutsche Bundeswehreinsätze stabilisiert habe. In den meisten urbanen Zentren würden Verwaltungs- und Regierungsstrukturen grundsätzlich anerkannt. "Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und deutsche Verwaltungsgerichte haben daher mehrfach bestätigt, dass Rückführungen nach Afghanistan im Einzelfall möglich sind", erklärt Hardt.

"Zur Not fliegen wir mit nach Afghanistan"

Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen UNHCR betont: Ganz Afghanistan ist von bewaffneten Konflikten betroffen. Aufgrund der sich ständig ändernden Sicherheitslage könne man gar nicht zwischen sicheren und unsicheren Regionen in dem Bürgerkriegsland unterscheiden. Und die Vereinten Nationen sprechen von immer mehr zivilen Opfern: Im ersten Vierteljahr habe es 72 tote und 76 verletzte Zivilisten gegeben, fast das Fünffache der Opferzahl im vergangenen Jahr. Der Flüchtlingsrat NRW hat eine Petition noch bis Mitte Juni laufen — und fordert einen Abschiebestopp nach Afghanistan.

Auch Diplomkauffrau Gerlach, die ehrenamtlich im Kölner Stadtrat sitzt, will einen Abschiebestopp erwirken. Eine Adoption eines 18-Jährigen würde nicht helfen, einen Ausbildungsvertrag als Schutz vor der Abschiebung hält sie für falsch — Navid soll erst seinen Schulabschluss 2018 machen. Für ihr Pflegekind will sie mit ihrem Partner Babak Tubis alles versuchen.

Viel Zeit, Geld und Nerven haben sie schon investiert. "Es ist teuer, deprimierend, würdelos", sagt sie, "die Behörden werden so keine Pflegefamilien mehr für Flüchtlingskinder finden." Jetzt läuft die Klage gegen den Bamf-Bescheid, "wir spielen auf Zeit". Navid guckt skeptisch. "Schatz", sagt Gerlach, "wir sind bei dir, zur Not fliegen wir mit nach Afghanistan."

"Navid" bedeutet übersetzt "neu", aber auch "gute Nachricht". Bisher bleibt die aus.

(jra)
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