Bundesverbandstag in Berlin Kanzlerin umarmt Sozialverband VdK

Berlin · Angela Merkel (CDU) stattete gestern Deutschlands größtem Sozialverband einen Besuch ab, obwohl die Kämpfer fürs Soziale gerade damit drohen, die Bundesregierung vors Verfassungsgericht zu bringen.

Was sagt man bei einem Besuch, bei dem der Gastgeber einen vor das Bundesverfassungsgericht zerren möchte? Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) versuchte es in ihrer Rede beim Sozialverband VdK in Berlin gestern mit einer Prise Galgenhumor: "Machen Sie doch erst einmal noch ein bisschen Druck auf uns, bevor Sie zum Verfassungsgericht gehen", sagte die Kanzlerin.

Und Druck machen, das kann der Sozialverband, dessen Abkürzung VdK aus der Zeit rührt, als sich die Lobby-Organisation der Armen und Benachteiligten noch als "Verband der Kriegsversehrten" verstand. Heute streitet der Verband mit seiner rührigen Chefin Ulrike Mascher an der Spitze für Rentner, Arbeitslose, Geringverdiener, Behinderte und Pflegebedürftige. Die Organisation verfügt über 1,7 Millionen Mitglieder und ist damit Deutschlands größter Sozialverband.

Bei der angedrohten Klage vor dem Verfassungsgericht geht es um die Pflegebedürftigen. Die Sozial-Lobbyisten sind empört, dass eine große Pflegereform in Deutschland zweimal verschoben wurde. Nun drohen sie damit, eine bessere Versorgung in der Pflege vor dem Bundesverfassungsgericht einzuklagen. Zunächst vertagte die erste große Koalition unter Merkel die Reform, mit der ein neuer Begriff von Pflegebedürftigkeit eingeführt werden sollte. Danach traute sich auch Schwarz-Gelb keinen großen Wurf zu. Doch bei jeder rhetorischen Schleife, die die Politik zur Pflegereform drehte, wuchsen die Erwartungen der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen nach mehr Hilfen und mehr Geld.

Die Kanzlerin betonte gestern in ihrer Rede, Voraussetzung für die Einführung eines Pflegebegriffs sei, dass niemand weniger aus der Pflegeversicherung bekomme als heute. Dass es auch Verlierer einer Pflegereform geben könnte, ist die Sorge der Experten, weshalb das Gesundheitsministerium nun zunächst eine Phase der Erprobung gestartet hat.

Der Sozialverband hat dennoch keine Geduld mehr. Ungeachtet der Bitten der Kanzlerin betonte Mascher, dass ihr Verband die Klage prüfen werde. Zudem brachte sie eine Petition für den Bundestag ins Rollen, die von 200 000 Menschen unterstützt wird. "Wer pflegebedürftig ist, muss sich auf die gesetzliche Pflegeversicherung verlassen können", sagte Mascher. "Wir fordern eine große Pflegereform, die auch die Bedürfnisse Demenzkranker berücksichtigt."

Der Einfluss des Sozialverbandes ist unter der Maschers Leitung enorm gewachsen. Gerade erst wurde die 75-Jährige, die auch eine beachtlich hohe Talkshow-Präsenz vorweisen kann, für vier weitere Jahre als Präsidentin gewählt. In ihrer Zeit als SPD-Bundestagsabgeordnete und Staatssekretärin für Arbeit und Soziales in der Regierungszeit von Gerhard Schröder erlangte sie nie so viel öffentliche Wahrnehmung wie in ihrem jetzigen Ehrenamt.

Mittlerweile wird ihre Stimme zu fast allen sozialpolitischen Themen gehört. Ihre Forderungen an und Kritiken gegen die Bundesregierung entfalten mitunter mehr Schlagkraft als die der Oppositionspolitiker.

Die Kanzlerin, die ein feines Gespür dafür hat, welchen Verbänden man zu welchen Anlässen einen Besuch abstatten sollte, schaute gestern also nicht zufällig zum Abschluss des zweitägigen Verbandstags in Berlin beim VdK vorbei. Sie war beim Sozialverband zum zweiten Mal zu Gast. Bereits 2008, während ihrer ersten Regierungszeit in einer großen Koalition, besuchte sie die Lobbyisten fürs Soziale. Während sie mit der FDP im Bunde war, mied sie einen Auftritt beim Sozialverband.

Gestern musste Merkel trotz der Kritik des VdK an der Pflege nicht fürchten, ausgebuht zu werden. Beim Sozialverband bekommt ihre Regierung derzeit mehr Applaus als bei den Arbeitgeberverbänden. Die Kanzlerin räumte ein, dass es in Deutschland ein soziales Gefälle gebe. Bessern soll sich die Lage durch den geplanten Mindestlohn, das Rentenpaket und die Pflegereform.

"Ein Beitrag gegen Altersarmut ist die Verabredung der großen Koalition zur Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns", sagte Merkel. Dieses Argument gehörte übrigens zu den Lieblingsthesen der SPD im vergangenen Bundestagswahlkampf. In welchem Umfang die Regierung zudem die Altersarmut bekämpfen wird, beispielsweise durch eine Lebensleistungsrente, ließ Merkel offen. Die Diskussion dazu werde schwierig, beschied sie.

(qua)
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