Neu-Delhi Bhopal-Opfer warten seit 30 Jahren auf Entschädigung

Neu-Delhi · Das schlimmste Chemieunglück aller Zeiten erschütterte 1984 die Welt. Tausende Inder starben qualvoll, viele weitere leiden noch heute.

Wie eine stumme Anklage ragen die Ruinen der Todesfabrik aus dem Dschungel, Tanks rosten vor sich hin, noch immer liegen ein paar braune Glasflaschen herum. Auch 30 Jahre nach der Tragödie hat Bhopal nicht mit der Nacht des Schreckens abgeschlossen, als das schwerste Chemieunglück aller Zeiten die Stadt im zentralindischen Madhya Pradesh erschütterte.

Es ist kurz nach Mitternacht am 3. Dezember 1984, als in der Pestizidfabrik des US-Konzerns Union Carbide Corporation (UCC) der Tank 610 explodiert und 40 Tonnen hochgiftiges Methylisocyanat entweichen. Wie ein milchig-weißer Nebel frisst sich die Todeswolke in die Gassen der umliegenden Slums, in die Hütten der Armen. Die Schlafenden haben keine Chance.

Das Gift verätzt Augen, Atemwege und Organe. Menschen rennen um ihr Leben. Mit stechenden Lungen und brennenden Augen, halbblind und verzweifelt nach Luft ringend. 4000 bis 8000 Menschen sterben binnen 72 Stunden, weitere 15 000 bis 25 000 in der Folgezeit. Rund 500 000 atmen das Giftgemisch ein, über 100 000 bleiben chronisch krank. Noch heute kommen rund um die Fabrik auffällig viele Kinder mit Geburtsfehlern zur Welt.

Die Geschichte des Unglücks ist auch eine Geschichte nicht endenwollender Skandale. Trotz Warnungen wurde die Pestizidfabrik, die zu 50,9 Prozent der US-Firma UCC und zu weiteren 49,1 Prozent Indien gehörte, 1969 nahe der völlig überbevölkerten Armensiedlungen gebaut. Bis heute ist ungeklärt, wie es zur Katastrophe kam. Eine unabhängige Untersuchung gab es nie.

Die gängige Version besagt, dass Profitgier, Pannen und Schlampereien zu der Katastrophe führten. Weil in den 80er Jahren die Nachfrage nach dem Pestizid Sevin einbrach, setzte UCC den Rotstift an: beim Personal. Bei Ersatzteilen. Bei der Wartung. Als durch eine Verkettung von Zufällen Wasser in den Tank 610 gelangte, nahm die Tragödie ihren Lauf. Doch von UCC beauftragte Experten zweifeln an dieser Version. Sie vermuten Sabotage durch einen Mitarbeiter.

Bis heute warten die Opfer auf angemessene Hilfe. Nach mehrjährigem Tauziehen hatte sich Union Carbide zwar 1989 mit Indien auf eine Entschädigung geeinigt und 470 Millionen Dollar an die indische Regierung gezahlt. Doch ein Teil des Geldes kam nie bei den Opfern an, sondern verschwand in dunklen Kanälen.

Die indische Regierung zog zudem die Auszahlung derart in die Länge, dass das Oberste Gericht sich 2004 genötigt sah, Delhi anzuweisen, die verbleibenden Gelder freizugeben. Im Schnitt erhielten die Opfer 400 Dollar, Familien von Toten 2200 Dollar - Almosen.

Bis heute wurde niemand zur Rechenschaft gezogen. Zwar war der damalige UCC-Boss Warren Anderson sofort nach Indien geeilt. Doch Delhi zwang ihn, das Land binnen 24 Stunden wieder zu verlassen. Vermutlich fürchtete man Aufstände. Zwar forderte Indien in den Jahren danach wiederholt von den USA die Auslieferung Andersons, aber eher halbherzig. In diesem Jahr starb der frühere Manager im Alter von 92 Jahren in Florida.

Sieben indische Manager der Fabrik wurden erst 2010 verurteilt. Doch das Strafmaß wirkte wie ein Schlag ins Gesicht der Opfer: Die Männer kamen mit zwei Jahren Haft auf Bewährung und einer Geldbuße von 1800 Euro davon.

Noch immer verseuchen die Altlasten der Fabrik Boden und Grundwasser. Doch die Beteiligten streiten sich, wer das Gelände der Todesfabrik entgiften muss. Niemand fühlt sich in der Pflicht. UCC gibt es nicht mehr. Bereits 1994 hatte das Unternehmen seine Anteile an der Todesfabrik verkauft. 2001 wurde es vom US-Konzern Dow Chemical geschluckt, der jede Verantwortung von sich weist.

Das Gelände gehört heute dem Land Madhya Pradesh. Doch die Landesregierung scheint kein Interesse daran zu haben, den Giftmüll zu beseitigen. Zwar verdonnerte das Oberste Gericht Indiens 2012 die Landesregierung, endlich aufzuräumen, doch bislang geschah nichts.

(RP)
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