Neue Zahlen zur Kinderarmut NRW lässt seine Kinder zurück

Düsseldorf · Vielfältige Initiativen der Landesregierung konnten bisher nichts daran ändern, dass die Kinderarmut in Nordrhein-Westfalen so stark gestiegen ist wie in sonst keinem anderen Bundesland.

Kinderarmut: NRW lässt seine Kinder zurück
Foto: AP, AP

Der kleine Junge zögert einen Augenblick, dann dreht er die Zeichnung um und schaut die Ministerpräsidentin erwartungsvoll an. Hannelore Kraft beugt sich zu ihm herab und lobt, gespielt überrascht: "Nee, das hast Du jetzt nicht gemalt, oder?" Der Junge strahlt.

An diesem Tag im Sommer 2015 besucht die nordrhein-westfälische Regierungschefin ein Familienzentrum in Oberhausen. Die Stadt im Ruhrgebiet ist eine von 18 Modellkommunen, die sich am Vorzeigeprojekt "Kein Kind zurücklassen!" beteiligen. Vor fünf Jahren rief die sozialdemokratische Ministerpräsidentin zusammen mit der Bertelsmann-Stiftung das Modellvorhaben ins Leben, um gerade auch für sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche in Nordrhein-Westfalen die Rahmenbedingungen zum Aufwachsen zu verbessern. In den Kommunen sollten "verlässliche Präventionsketten" entstehen, die einzelnen Initiativen vor Ort sollten besser koordiniert werden. Frühzeitige und kontinuierliche Förderung sei das Ziel, um die Kinder zu befähigen, als Erwachsene ohne staatliche Unterstützung zurechtzukommen, hieß es damals. In Kürze will Kraft eine weitere Zwischenbilanz vorlegen, um zu belegen, dass "Kein Kind zurücklassen!" sein Ziel nicht verfehlt.

Das aber wird durch eine aktuelle Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung zur Kinderarmut infrage gestellt. Die Lebensbedingungen für Kinder im Land haben sich demnach nicht verbessert, sondern sogar deutlich verschlechtert. Laut Studie stieg die Kinderarmutsquote in der Zeit der rot-grünen Landesregierung zwischen 2010 und 2014 von 20,9 Prozent auf 23,6 Prozent. Damit gelten in absoluten Zahlen 684.000 Kinder in NRW als arm. Bundesweit hingegen legte die Kinderarmutsquote in diesem Zeitraum nur um 0,8 Prozentpunkte auf 19 Prozent zu. In den westlichen Bundesländern liegt sie sogar im Schnitt nur bei 17,8 Prozent, also weit unter der Quote in NRW.

Die Folgen der Armut sind gravierend: Für Kinder, deren Mütter mindestens einen Realschulabschluss haben, sind die Chancen, auf das Gymnasium zu wechseln, viermal geringer, wenn sie arm sind. Das hat die Arbeiterwohlfahrt einmal herausgefunden. Hingegen wechseln 47 Prozent der nicht armen Kinder auf ein Gymnasium, auch wenn ihre Mutter nur die Hauptschule besucht hat. Bei armen Kindern sind es lediglich 17 Prozent.

Gerade die Armut ist es, die Kinder folglich um gleiche Bildungschancen bringt. Und davon sind Kinder in NRW zugleich auch stärker betroffen als in anderen Bundesländern. NRW zählt laut WSI zu den einzigen vier Bundesländern neben Rheinland-Pfalz, dem Saarland und Berlin, in denen auch in der Langzeitbetrachtung von 2005 und 2014 die Kinderarmut zugenommen hat. Mit einem Plus von 3,2 Prozentpunkten stieg die Armutsquote in NRW sogar so stark wie in sonst keinem anderen Bundesland. Selbst in Ostdeutschland wendete sich der Trend zwischen 2005 und 2014 anders als in NRW zum Besseren. Dort sank das Armutsrisiko für Kinder in den vergangenen zehn Jahren laut Studie "massiv" von 29 Prozent auf 24,6 Prozent und erreichte 2014 damit einen Tiefstand. In allen Regionen Ostdeutschlands außer Berlin ging die Kinderarmut zurück - anders als in Nordrhein-Westfalen, wo die Armutsquote in allen fünf Regionen, also in Münster, Arnsberg, Düsseldorf, Köln und Detmold stieg.

Die wichtigste Ursache von Kinderarmut ist Arbeitslosigkeit der Eltern. Wenn die Arbeitslosenzahlen in einer Region zurückgehen, dann sinke fast immer auch die Kinderarmutsquote, sagt Eric Seils, Autor der Studie. In NRW aber liegt die Arbeitslosigkeit deutlich über dem Bundesschnitt. Zudem steigt das Armutsrisiko rasant, wenn ein Kind in einem Haushalt mit nur einem Elternteil aufwächst. Das wirksamste Mittel gegen Kinderarmut ist daher eine beschäftigungsfreundliche Wirtschaftspolitik: "Die Einbindung in den Arbeitsmarkt ist entscheidend", lautet ein Fazit der Studie. Und zwar für beide Elternteile - in vielen Familien reiche ein einziges Einkommen nicht aus, um der Armutsfalle zu entkommen.

Die Landesregierung hingegen verweist in einer Stellungnahme auf vielfältige Gegenmaßnahmen - von Förderprojekten für Langzeitarbeitslose bis hin zur Unterstützung von Familienbildungsstätten. Einzelne Erfolge, auch finanzielle, könne auch das langfristig angelegte Projekt "Kein Kind zurücklassen!" vorweisen: In Hamm etwa stieg der Anteil der Grundschulempfehlungen für ein Gymnasium oder eine Realschule 2014 um drei Prozentpunkte. Auch die Zahl der Schüler, die ohne Abschluss nach der 9. oder 10. Klasse die Schulen verlassen, sei rückläufig, sagt Brigitte Wesky, Kinderbeauftragte der Stadt Hamm. Ähnliche Erfolge vermelden der Landesregierung zufolge auch andere Kommunen wie Unna, wo frühe Familienberatung teure Hilfen zur Erziehung überflüssig machte oder Warendorf, wo durch ein Elterntraining 300.000 Euro eingespart wurden.

Schlechte Aussichten

Doch grundsätzlich habe sich bisher nichts verändert, darin sind sich WSI, Kinderschutzbund und Paritätischer Wohlfahrtsverband einig. Und in Zukunft wird es voraussichtlich noch viel mehr arme Kinder in Deutschland geben: In der vorliegenden WSI-Studie sind die steigenden Flüchtlingszahlen noch gar nicht berücksichtigt. Migrantenfamilien aber haben ein besonders hohes Armutsrisiko wegen der schlechteren Chancen auf dem Arbeitsmarkt.

Wie groß die neuen Herausforderungen sind, zeigt ein Blick in die Vergangenheit: Selbst Gastarbeiter, die vom ersten Tag an in den Arbeitsmarkt integriert waren, verloren den Forschern zufolge häufig ihre Jobs als erste. Weil ihre Qualifikation nicht ausreichte.

(RP)
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