Analyse Wo Deutschland Kinderrecht bricht

Berlin · 25 Jahre ist die UN-Kinderrechtskonvention nun alt. In Deutschland sieht das Grundgesetz aber noch keinen besonderen Schutz der Kinderrechte vor. Dabei werden diese vor allem vor Gericht immer wieder hintangestellt.

Kinderrechte: Joachim Gauck spricht über die UN-Kinderrechtskonvention
Foto: Stephanie Pilick

Das politische Berlin hörte genau hin, als Bundespräsident Joachim Gauck gestern im Schloss Bellevue vor rund 50 Kinder trat, um über den 25. Geburtstag der UN-Kinderrechtskonvention zu sprechen. Würde er sich zur Debatte über eine Verankerung der Kinderrechte im Grundgesetz äußern oder nicht? Gauck tat es nicht, war er doch erst vor Kurzem wegen seines kritischen Kommentars zu einem möglichen linken Ministerpräsidenten in Thüringen scharf angegriffen worden.

Eines der geladenen Kinder, die sich allesamt in vorbildlicher Weise für den Schutz der Kinderrechte in Deutschland engagieren, wollte es aber nach mehr als einer Stunde doch noch wissen: Ist der Herr Bundespräsident nun dafür oder dagegen, dass nicht nur Tiere und die Umwelt besonderen Schutz in der Verfassung genießen, sondern künftig auch Kinder? "Für alle Menschen sind die Rechte grundlegend gesichert in unserer Verfassung", wich Gauck aus. Allerdings betonte er: "Ich wäre etwas wuschiger und engagierter, wenn ich sehen würde, dass in diesem Land Kinderrechte missachtet werden."

Tatsächlich genießt die überwiegende Mehrheit der Kinder in Deutschland im internationalen Vergleich ein hohes Maß an Sicherheit, Wohlstand und Rechtsschutz. In vielen anderen Ländern kämpfen Kinder deutlich häufiger mit Hunger, den grausamen Folgen wirtschaftlicher oder sexueller Ausbeutung, einer schlechten Gesundheitsversorgung oder mit mangelnden Zugängen zu Bildung.

Das sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass vor unserer Haustür längst nicht alle Kinder sicher sind. In Deutschland werden Kinderrechte gebrochen - wenn auch auf einem zumeist anderen Niveau. "Die Zahl der Kinder, denen es in Deutschland sehr schlecht geht, wächst", sagt etwa der Präsident des Kinderschutzbundes, Heinz Hilgers. Vor allem Kinder aus armen Haushalten seien betroffen. Demnach leben 2,5 Millionen Kinder in Deutschland von staatlichen Transferleistungen wie Sozialhilfe. "Auch diese Kinder leiden unter schlechter Gesundheitsversorgung, mangelnden Chancen im Bildungssystem und der großen Gefahr, in der Armutsspirale gefangen zu bleiben", sagt Hilgers.

Denn in Wahrheit geht es für viele Kinder etwa aus sozialen Brennpunkten der deutschen Großstädte längst nicht mehr um Fragen des gesellschaftlichen Aufstiegs. Viel häufiger müssen sie sich damit auseinandersetzen, vielleicht überhaupt nicht mehr am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu können - auf Dauer ausgegrenzt zu sein. "Wenn mir ein Elfjähriger aus Duisburg erzählt, dass er mal von Hartz IV leben will, hat dieses Land ein ernstes Problem", sagt Hilgers. Und es sei für den Zusammenhalt der Menschen gefährlich, wenn das Risiko für Kinder in Bremen 200 Mal größer ist als am Tegernsee.

Kinderrechte werden jedoch nicht nur in dem Teil der Gesellschaft verletzt, der in Armut lebt. Auch in wohlhabenden Familien können viele Kinder nicht auf die Fürsorge ihrer Eltern zählen, können keine gewaltfreie Erziehung genießen oder werden gar Opfer sexuellen Missbrauchs.

Vor allem Flüchtlingskinder sind in Deutschland von massiven Verletzungen ihrer Rechte betroffen. Weil Flüchtlinge häufig in Sammellagern untergebracht werden, können sie in ihren Entwicklungsmöglichkeiten längst nicht so gefördert werden wie Kinder mit deutscher Staatsbürgerschaft. Die Schulpflicht zum Beispiel gilt für Flüchtlingskinder nicht überall in Deutschland, zudem gibt es teils prekäre Bestimmungen zur Abschiebung minderjähriger Flüchtlinge.

Könnte aber eine Verankerung der Kinderrechte in der Verfassung an der gegenwärtigen Situation von Kindern in Deutschland etwas ändern? Zunächst wohl kaum. Allerdings hätte eine solche Berücksichtigung im Grundgesetz durchaus Folgen für die Gesetzgebung: Jedes Gesetz muss verfassungskonform sein, dürfte also keines der Kinderrechte beschneiden. Und auch die Rechtsprechung würde stark beeinflusst. Denn nicht selten werden heute Prozesse zum Nachteil von Kindern entschieden, weil in der richterlichen Abwägung verfassungsrechtlich geschützte Rechte Vorrang genießen.

Das wird an diesem Beispiel deutlich: Klagt etwa ein Anwohner gegen den Bau eines Spielplatzes in einem Wohngebiet, weil er den (Nutz-)Wert seines Wohneigentums durch möglichen Lärm beeinträchtigt sieht, könnte ihm ein Gericht recht geben. Eigentum ist im Grundgesetz verankert, das besondere Kinderrecht auf Freizeit, Spiel und Erholung aber nicht.

Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD) hat daher gestern ihre Forderung nach einer Verankerung der Kinderrechte im Grundgesetz erneuert: "Das Grundgesetz legt die wesentlichen Werte in unserem Staat fest und steht über allen anderen Gesetzen", sagte Schwesig. "Es ist nicht in Ordnung, dass in unserem wichtigsten Wertebuch die Kinderrechte fehlen." Sie wolle daher für eine breite Mehrheit in Politik und Gesellschaft werben, um die Verfassung um die Kinderrechte zu erweitern.

Bei Eckhard Pols (CDU) rennt sie damit schon offene Türen ein. "Ich kann die Argumente der Familienministerin nachvollziehen", sagte Pols. Er wisse jedoch um die Vorbehalte in der Unionsfraktion gegen die Verankerung der Kinderrechte. "Daher würde ich mir eine Debatte und Abstimmung im Bundestag ohne Fraktionsdisziplin wünschen", sagte Pols.

Eine prominente Mitstreiterin ist auch die einstige Bundesfamilienministerin Renate Schmidt (SPD). "Ich bin nicht nur für den längst überfälligen Grundrechtsschutz der Kinderrechte", sagte Schmidt unserer Zeitung. Sie plädiert auch für ein Wahlrecht von Kindern von Geburt an.

(jd)
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