Jürgen Brand, Präsident des Landessozialgerichts "Klage gegen Hartz IV lohnt sich"

Düsseldorf (RP). Jürgen Brand, Präsident des Landessozialgerichts, äußert sich bei einem Besuchin unserer Redaktion zu den Problemen mit Hartz IV und den Klagen von Patienten gegen die Krankenkassen.

 Weniger Kinder benötigten 2008 Hartz IV.

Weniger Kinder benötigten 2008 Hartz IV.

Foto: AP, AP

Herr Brand, führt die Wirtschaftskrise zu einem Anwachsen der Klagen wegen Hartz IV?

Brand Davon ist noch nichts zu spüren, weil die Krise den Arbeitsmarkt noch nicht voll erreicht hat. Anders wird das sein, wenn die Kurzarbeit in Arbeitslosigkeit mündet. Von den 81 000 Verfahren, die wir im vergangenen Jahr in NRW hatten, bezogen sich 25 000 auf Hartz IV. Die Hälfte davon ging für den Kläger positiv aus.

Sie gelten als Kritiker der Hartz-IV-Regelung. Was bemängeln Sie?

Brand Es gibt Fachkräfte, die haben 20 Jahre bei einem Unternehmen gearbeitet, bekommen ein Jahr lang Arbeitslosengeld und rutschen dann nach Hartz IV. Das ist ein harter Schlag. Es gibt aber auch Menschen, die sind arbeitsresistent und wollen nicht arbeiten. Das Gesetz will beide Gruppen erfassen. Das ist problematisch.

Wie hoch schätzen Sie die Gruppe der Arbeitsscheuen?

Brand Etwa 15 Prozent der Hartz-IV-Bezieher, die bei uns klagen.

Sind die Hartz-IV-Sätze zu niedrig?

Brand 211 Euro für ein Kind zwischen sechs und 13 Jahren sind sicherlich zu wenig. Der Betrag wird zwar ab 1. Juli auf 251 Euro angehoben, aber ich weiß nicht, ob das wirklich ausreichend ist.

Aber es gibt doch auch Hartz-IV-Familien, die 1500 Euro im Monat zur Verfügung haben.

Brand Stimmt. Aber denken Sie an die Alleinerziehenden. Da wird es ziemlich eng. Sie gehören eindeutig zu den Verlierern von Hartz IV.

Sind Sachleistungen besser?

Brand Ja. Ich halte auch von den 100 Euro beim Schulstart nichts. Früher haben wir doch auch gelesene Bücher verwendet. Warum muss heute alles neu gekauft werden?

Soll der Staat stärker kontrollieren, wofür Hartz-IV-Empfänger das Geld ausgeben und ob es auch wirklich bei den Kindern landet?

Brand Das halte ich für fragwürdig. Bei den Kontrollen müssten Sie ja die Kinder eventuell gegen die Eltern ausspielen. Nein, das geht wirklich nicht. Aber mehr Sachleistungen — das wäre hilfreich.

War es richtig, die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I zu verlängern?

Brand Ja, auf jeden Fall. Sie sollte sogar noch weiter verlängert werden. Arbeitslose sollten nicht erst ab 50, sondern bereits ab 45 Jahren zwei Jahre Anspruch auf Arbeitslosengeld I haben.

Aber die Arbeitslosenversicherung ist doch keine Sparkasse.

Brand: Der Einwand ist berechtigt, zieht aber nicht. An der Arbeit hängt schließlich die Existenz ganzer Familien.

Ministerpräsident Jürgen Rüttgers fordert eine Erhöhung des Schonvermögens. Wäre das sinnvoll?

Brand Ein Ehepaar kann schon heute 50 000 Euro als Schonvermögen behalten und gleichzeitig Hartz-IV-Leistungen beziehen. Die Frage ist, ob man die Grenze bei Lebensversicherungen weiter heraufsetzt.

Und wie steht es um die Arbeitsgemeinschaften zur Betreuung der Arbeitslosen?

Brand Viele Mitarbeiter wurden im Schnelldurchlauf geschult und haben oft nur einen befristeten Vertrag. Nicht wenige sind zumindest innerlich auf dem Absprung. Zudem ist die Software noch immer ein Problem.

Das Landessozialgericht beschäftigt sich auch mit Streitigkeiten von Krankenkassen. Worum geht es hier?

Brand: Meist streiten Patienten oder Ärzte mit den Krankenkassen um Leistungen. Auch hier lohnt es sich zu klagen: 30 Prozent der Patienten, die diesen Weg beschreiten, bekommen vor dem Landessozialgericht Recht.

Sie sind kraft Amtes auch Richter am Verfassungsgerichtshof. Vor wenigen Monaten sind Sie in die Schlagzeilen geraten, weil Sie in Hagen SPD-Chef werden wollten.

Brand Meine Tätigkeit am Verfassungsgericht ist ja nur ein Nebenamt; das vergessen viele. Im Verfahren um die Kommunalwahl habe ich mich für befangen erklärt. Das habe ich für richtig gehalten. Ich habe aber nicht mit einer so scharfen öffentlichen Kritik gerechnet.

Sind Sie denn für die Zusammenlegung von Wahlen?

Brand Nein, ist finde dies sogar höchst bedenklich.

Und die Abschaffung des Stichentscheids bei der Wahl der Bürgermeister und Landräte?

Brand Das ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

Welches Talent sehen Sie als Genosse in der SPD mit Wohlwollen?

Brand Das ist für mich eindeutig der Oberbürgermeister von Gelsenkirchen, Frank Baranowski.

Sven Gösmann, Antje Höning und Detlev Hüwel führten das Gespräch

(RP)
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