Analyse Kopftuch ja? Kruzifix nein?

Berlin · Ein Urteil mit Sprengkraft: Mitten im Streit um die "Islamisierung des Abendlandes" kassiert das oberste Gericht die Gestaltungsfreiheit der Länder. Sie dürfen Musliminnen nicht mehr zu äußerlicher Neutralität verpflichten.

Auf der "Pegida"-Protestwiese dürfte das Verfassungsgericht für wohlige Schauer demonstrativen Entsetzens sorgen. Wie lässt sich eine angebliche "Islamisierung des Abendlandes" noch besser belegen als durch die Aufeinanderfolge von Eingriffen in die Gestaltungsfreiheit der Länder in ihren Schulen: denn dort, so lautet ein Urteil, verstoßen Kruzifixe als Zeichen des christlichen Abendlandes tendenziell gegen die Verfassung. Das Tragen des Kopftuches als Bekenntnis zum Islam darf den Erzieherinnen unserer Kinder aber nicht mehr verwehrt werden.

Eigentlich hätte man vor Ort bei den muslimischen Klägerinnen aus NRW die Kirche im Dorf und die Moschee in der Siedlung lassen können: Die eine Lehrerin unterrichtete ohnehin ausschließlich muslimische Schüler, so dass die Schulleitung auch ein Auge hätte zudrücken können. Und die andere Lehrerin hatte ihr Kopftuch zum Zeichen des Entgegenkommens abgelegt und durch Mütze und Kragen ersetzt - freilich in der Absicht, ihrer religiös motivierten Selbstverpflichtung zur Bedeckung von Haaren und Hals zu folgen. Geändert hätte dies aber nichts daran, dass früher oder später das Thema doch in Karlsruhe gelandet wäre.

Verstört zeigen sich jedoch zwei der acht Verfassungsrichter des nun entscheidenden Ersten Senates, dass sich die große Mehrheit der Kollegen so nonchalant über die Maßstäbe hinwegsetzt, die der Zweite Senat bei der vorangegangenen Kopftuchentscheidung im Jahr 2003 gefällt hatte. Auch damals ging es darum, ob eine Muslima mit Kopftuch unterrichten darf. Die baden-württembergischen Behörden sagten Nein - und das Verfassungsgericht hob alle vorangegangenen Urteile auf mit der Begründung, ein solcher Eingriff in die Grundrechte der Frau bedürfe einer gesetzlichen Ermächtigung. Die aber könne durchaus auf ein Kopftuchverbot für Pädagoginnen hinauslaufen. In der Folge sprachen sich viele Lehrerverbände dafür aus, die Schulen mit der Kopftuchfrage nicht allein zu lassen. Es dürfe nicht nur die Möglichkeit für Schulen geben, Kopftücher für Lehrerinnen zu untersagen, das müsse vielmehr landeseinheitlich klar vorgegeben werden. Nichts anderes haben dann verschiedene Bundesländer wie NRW getan. Die klare Absicht: Rechtsfrieden und Schulfrieden zu schaffen.

Multikulti-Freunde sehen das jüngste Urteil nun ebenfalls unter dem Stichwort Befriedung. Nun sei klar, dass Kopftücher an der Schultafel genau so normal seien wie die Kippa des jüdischen Lehrers oder das Kreuz um den Hals des Jesuiten-Paters beim katholischen Religionsunterricht. Doch Zweifel sind angebracht.

Denn im Kleingedruckten der jüngsten Entscheidung findet sich eine verblüffende Einschränkung. Das Kopftuchtragen könne durchaus auch generell für einzelne Schulen oder ganze Schulbezirke für eine gewisse Zeit verboten werden, wenn es sich um eine "beachtliche Zahl von Fällen" handele. Das heißt: Die Richter sehen durchaus die Gefahr, dass der Schulfrieden gestört sein kann, wenn Schüler vielen Kopftuch tragenden Lehrerinnen gegenübersitzen. Aber wenn es nur wenige sind, soll das nicht gelten?

Darin zeigt sich der verquere Ansatz dieser Gewichtung: Wenn nur die abstrakte Gefahr besteht, dass Schüler mit der Islamisierung des Erscheinungsbildes ihrer Lehrer nicht klarkommen, soll das Grundrecht der einzelnen Pädagogin, ihrer religiösen Überzeugung äußerlich Ausdruck verleihen zu können, vorgehen vor dem Grundrecht von Schülern und Eltern, von ungewünschten religiösen Beeinflussungen ferngehalten zu werden. Wird diese Gefahr aber konkret, weil die Schüler massiv von Kopftüchern umgeben sind, dann soll das Grundrecht der Lehrerin zurücktreten. Stringent ist das nicht. Denn nun soll es also einzelnen Institutionen überlassen sein, sich bei der Eskalation von (Religions-)Konflikten auszusuchen, ob die nur abstrakte Gefahr einer Beeinflussung schon in eine konkrete Gefahr umgeschlagen ist und damit plötzlich Kopftuchverbote im großen Stil nötig sind. Klare Linien sehen anders aus.

Genau diese Möglichkeit zum eskalierenden Konflikt sollte durch das NRW-Gesetz vermieden werden. Denn Lehrerinnen sind nun einmal in einer besonderen Funktion. Eine Muslima, die im Katasteramt die Akten wälzt, beim Straßenverkehrsamt die Kennzeichen vergibt oder im Meldeamt die Pässe ausstellt, kann Kopftuch tragen oder nicht. Hier kommt es auf ihren Service und nicht auf ihre Bekleidung an. Aber eine Kopftuch tragende Lehrerin ist Repräsentantin des Staates in Vorbildfunktion.

Was das bedeuten kann, wird aus der Stellungnahme der Türkisch-Islamischen Union deutlich, die das Verfassungsgericht selbst zitiert. Danach schreibt ihr oberster Religionsrat vor, dass muslimische Frauen ab Eintritt der Pubertät in Gegenwart von Männern die Konturen und die Farbe ihres Körpers so bedecken müssten, dass einzig Gesicht, Hände und Füße zu sehen seien. Millionen Muslime sehen das völlig anders, und auch sie können sich auf eine Auslegung des Korans berufen. Auf ein zehn-, elf- oder zwölfjähriges Mädchen dürfte angesichts dieses innermuslimischen Meinungsstreites das Kopftuch ihrer Lehrerin durchaus anders wirken, als es ihre liberalen Eltern erwarten. Sie konnten bislang auf die Neutralität des Staates setzen. Nun nicht mehr.

Im Duktus des jüngsten Urteils ist es nicht ausgeschlossen, dass es als nächstes um Muslima geht, die auch in der Burka unterrichten wollen. Insofern hat das Verfassungsgericht einen gesellschaftlichen Streit nicht geschlichtet, sondern angefeuert. Vermutlich wird dieser tatsächlich geführt werden müssen. Und sicher wird irgendwann auch die Burka-Frage in Karlsruhe landen. Als Gelegenheit zur Korrektur.

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort