Analyse Kulturkampf um den Ganztag

Düsseldorf · Mit der Kritik am "Turbo-Abi" ist in Nordrhein-Westfalen auch das Unbehagen an der Nachmittagsbetreuung gewachsen. Dahinter steht ein gesellschaftlicher Großkonflikt, der allerdings mit den Fakten nicht allzu viel zu tun hat.

Analyse: Kulturkampf um den Ganztag
Foto: C. Schnettler

In der Schulpolitik wird gern und viel übertrieben. Neuerdings hat sie einen Aufreger mehr: den Ganztag. Während die einen darin die goldene Zukunft sehen, befürchten die anderen den sozialen Zusammenbruch. Der Ganztag hat sich in der Streit-Agenda nach vorn geschoben - als dynamischster Teil der Mega-Debatte um das achtjährige Gymnasium (G 8).

Es ist ein Kulturkampf, auch in NRW. Den Elterninitiativen, die erfolgreich den Unmut gegen die Schulzeitverkürzung bündelten, wurde schnell klar, dass ihre bildungsbürgerliche Klientel auch tiefes Unbehagen gegen mehr Ganztag hegt. Das macht sich auch in den Etiketten bemerkbar: So bezeichnet Marcus Hohenstein das Ziel seiner Initiative "G 9 jetzt" inzwischen als "Volksbegehren gegen Turbo-Abitur und Langtag" - früher war nur vom Kampf gegen G 8 die Rede.

Auch beim Ganztag hat die Umfrage der Landeselternschaft der Gymnasien (nur am Gymnasium tobt die Schlacht - Ganztag an der Gesamtschule ist längst selbstverständlich) im Frühjahr die Debatte grundlegend verändert. In der Erhebung nannten nur 14 Prozent eine Ganztagsschule als Wunschmodell. 58 Prozent hingegen wollten "ein G 9-Gymnasium wie früher". Alle verpflichtenden Ganztagsmodelle werden von den Eltern abgelehnt; allenfalls freiwillige Lösungen gelten als akzeptabel.

Die Ganztagsgegner scheuen sich nicht, ihre Kinder als Geiseln der Schule zu bezeichnen; weil neben der Schule für nichts mehr Zeit bleibe, beklagen sie wahlweise den Zusammenbruch der Musikkultur, der Vereinsstrukturen oder des Breitensports - vom Familienleben ganz zu schweigen. Gesamtschul-Eltern halten dagegen. So ätzte neulich Ralf Radke, Chef der Landeselternschaft der integrierten Schulen: "Das Gesellschaftsbild, das implizit davon ausgeht, dass die Mütter von Gymnasiasten nicht oder höchstens halbtags berufstätig sind, damit sie ihre Söhne und Töchter mittags daheim wieder mit warmem Essen in Empfang nehmen können, entsetzt uns zutiefst." Da wünsche sich wohl mancher die 50er Jahre zurück, lästert auch ein prominenter Schulpolitiker im Landtag.

Aber auch wenn mit G 8 der Nachmittagsunterricht ausgebaut wurde: Wer das Problem auf das "Turbo-Abi" reduziert, greift zu kurz. Im Streit um den Ganztag manifestiert sich vielmehr eine klassische Bruchlinie zwischen Konservativen und Linken: Macht ein Schulminister in erster Linie Gesellschafts- oder Bildungspolitik? Anders gesagt: Sollen die Schulen vor allem dem sozialen Ausgleich und der Gerechtigkeit dienen - oder sollen sie Wissen vermitteln und Leistung einfordern?

Die Wirklichkeit geht freilich in dieser Zweiteilung nicht auf. Ein Befund ist allerdings klar: Die Halbtagsschule ist auf dem Rückzug, und zwar zur Freude der Landesregierung. Der Ganztag, vor allem an der Gesamtschule, ist erklärtes Lieblingskind von Rot-Grün. So wird auch Ministerin Sylvia Löhrmann nicht müde, den Ausbau zu preisen. "Der Ganztag ist ein Beitrag zur Bildungsgerechtigkeit", sagt sie: "Wir eröffnen Kindern und Jugendlichen Bildungsangebote, für die vielleicht zu Hause der Zugang, die Zeit oder das Geld fehlen."

Aber auch die Zahl der Gymnasiasten im Ganztag hat sich seit Löhrmanns Amtsantritt 2010 fast verdreifacht. Mehr als 90 Prozent aller Grundschulen im Land haben inzwischen Ganztagsangebote und 68 Prozent aller Schulen. Ganztags- werden zudem gegenüber Halbtagsschulen bevorzugt - sie erhalten in der Sekundarstufe I einen 20-pozentigen Stellenzuschlag.

Zur Wahrheit gehört allerdings auch: Fast alle Angebote der Grundschulen sind freiwillig; nur gut 42 Prozent der Grundschüler sind laut Ministerium Ganztagskinder, nur 39 Prozent an weiterführenden Schulen. Allerdings ist der Ganztag hier, sofern es ihn gibt, meist verpflichtend. Praktisch alle Gesamtschulen arbeiten im Ganztag, aber nur ein Viertel der Gymnasien und 15 Prozent der Gymnasiasten. Zudem stellte die Bertelsmann-Stiftung 2016 fest, NRW erfülle bei der Ganztagsbetreuung nur Mindeststandards - hier stehen nur zwei Drittel der 13,7 zusätzlichen Stunden zur Verfügung, auf die Ganztagsschüler im Bundesschnitt kommen. Von Sprengung der Familienstrukturen kann also kaum die Rede sein.

Andererseits erschöpft sich Schulpolitik nicht in der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Auch die Ganztagsbefürworter müssen sich fragen lassen, ob und wie ihr Modell die Schüler voranbringt. Über eine "Datenwüste", was Dimension und Folgen des Ganztags betrifft, schimpfte kürzlich Thomas Rauschenbach, der Leiter des Deutschen Jugendinstituts (DJI). Die Erkenntnisse sind, vorsichtig gesagt, differenziert: So treffen sich jüngere Ganztagsschüler seltener mit Freunden, ältere etwas öfter. Beim Sport ist es ähnlich. Ganztagsschüler musizieren seltener, betätigen sich dafür häufiger kreativ - all das ergab 2014 eine DJI-Erhebung.

Die "Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen" fand ebenfalls 2015 heraus, "dass allein die Teilnahme an Ganztagsangeboten noch nicht ausreicht, um kognitive Kompetenzen zu verbessern". Ganztag macht per se keinen Schüler besser - dazu braucht es schon langjährige Ganztagsangebote mit Fachbetreuung. Gute Ganztagsschulen förderten dagegen, so die Forscher, Sozialverhalten und Motivation, und zwar besonders effektiv bei Grundschulkindern aus Migrantenfamilien.

Gesellschaftspolitisch und in Sachen Integration dürfte der Ganztag also insgesamt mehr Segen als Fluch sein. Was den Rest angeht, bleibt er der große Unbekannte. An Ganztagsschulen könne sich am ehesten ein neues Bildungsverständnis herausbilden, sagt Institutsleiter Rauschenbach - mit neuen Formen des Lernens, aber auch mit klarer Fokussierung auf Leistung. Dann mal los - die Masse ist beim Ganztag vorhanden. Die Klasse noch längst nicht.

(fvo)
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