Istanbul Lebhafte Debatte über türkisches Polizeirecht

Istanbul · Die Regierung will ein Gesetz verabschieden, das der Polizei mehr Rechte einräumt. Das Parlament streitet heftig darüber.

Schon zum zweiten Mal binnen 48 Stunden gingen in der Nacht zu Freitag Vertreter der türkischen Regierung und Opposition im Parlament mit den Fäusten aufeinander los. Bereits in der Nacht zu Mittwoch waren beide Parteien aufeinander losgegangen. Hammer und Glocke des Sitzungspräsidenten sowie mehrere Stühle kamen dabei zum Einsatz. Fünf Oppositionsabgeordnete wurden verletzt. Ein Abgeordneter erschien nach der Rauferei am Dienstag sicherheitshalber mit einem Fahrradhelm als Kopfschutz im Parlament.

Schlägereien im Parlament von Ankara sind nicht ungewöhnlich, doch diesmal gingen die Streithähne ganz besonders rabiat zur Sache. Es mag am Thema gelegen haben: In der Debatte, die noch einige Tage dauern wird, geht es um ein neues Demonstrationsstrafrecht, das der türkischen Polizei erweiterte Befugnisse zuspricht und das von der Opposition als Instrument zur Errichtung eines Polizeistaates abgelehnt wird.

Die Regierungspartei AKP habe mit den Schlägen im Parlament vorgemacht, was die Polizei demnächst auf den Straßen des Landes veranstalten werde, sagte der Kurdenpolitiker Ertugrul Kürkcü, der eine Kopfverletzung davontrug und sich deshalb den Fahrradhelm besorgte. Mit ihrer absoluten Mehrheit im Parlament kann die AKP die Novelle durchpeitschen, ohne auf die Einwände der Opposition einzugehen.

Mit dem Gesetz soll die Polizei zusätzliche Vollmachten bei Festnahmen, Durchsuchungen und Abhöraktionen erhalten. Unter anderem sollen Verdächtige bis zu zwei Tagen festgehalten werden können, ohne dass dies von der Justiz geprüft wird. Vermummung während einer als staatsfeindlich eingestuften Kundgebung kann mit bis zu fünf Jahren Haft geahndet werden. Wenn aus einer Demonstration heraus Brandsätze geworfen werden, dürfen Polizisten scharf schießen.

Das Gesetzespaket ist die Antwort der AKP auf Kurdendemonstrationen im vergangenen Herbst, bei denen mehrere Dutzend Menschen ums Leben kamen. Präsident Recep Tayyip Erdogan, der trotz seiner Rolle als Staatsoberhaupt weiter der De-Facto-Chef der AKP ist, beschimpfte die Gegner des geplanten Gesetzes als Anhänger von Chaos und Zerstörungswut. Dagegen fordert die Opposition, die Regierung solle das ihrer Meinung nach undemokratische Gesetzespaket zurückziehen. Mit diesem Appell stehen die Erdogan-Gegner nicht alleine da. Mehrere tausend Anwälte protestierten diese Woche vor dem Parlament gegen den Regierungsentwurf. Kritik kommt auch aus Europa und von Menschenrechtlern. Eigentlich hatte Europa nach den brutalen Polizeieinsätzen bei den Gezi-Protesten 2013 einen Abbau der Polizeimacht erhofft - doch nun geschieht das Gegenteil.

Die EU rief den Beitrittskandidaten Türkei angesichts des geplanten Demonstrationsstrafrechts deshalb ausdrücklich zum Schutz der Grundrechte auf. Der Europa-Rat appellierte an das türkische Parlament, die Novelle "im Lichte der relevanten internationalen Standards" nachzubessern. Auch die Menschenrechtsgruppe Human Rights Watch (HRW) äußerte Vorbehalte. Ministerpräsident Ahmet Davutoglu weist die Kritik zurück und betont, alle geplanten Maßnahmen seien auch in den Polizeigesetzen von EU-Ländern zu finden. HRW-Expertin Emma Sinclair-Webb hält dem entgegen, dass die Polizei in der Türkei schon jetzt häufig ungestraft Gewalt anwenden darf, was in der EU nicht der Fall sei. Doch Davutoglu ist unbeeindruckt und unterstreicht seine Entschlossenheit, das Maßnahmenbündel so zu verabschieden, wie es ist: "Das Gesetzespaket wird kommen, es wird kommen, es wird kommen", sagte er kürzlich.

(RP)
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