Analyse Machtkampf bei der Gründung von NRW

Düsseldorf · Gastbeitrag Konrad Adenauer, der spätere Bundeskanzler, und Karl Arnold, Düsseldorfs Oberbürgermeister und erster gewählter Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, verkörperten zwei unterschiedliche Strömungen innerhalb der CDU. Adenauers Linie setzte sich am Ende durch.

In der Politik gibt es Machtkämpfe, überall und in jedem politischen System. Auch in Deutschland, das nach der Befreiung durch die Alliierten 1945 einen politischen Neuanfang wagte, gab es Machtkämpfe. Nicht nur zwischen den Parteien begann der Kampf um Mehrheiten.

Mancher wird sich noch an den Versuch von Konrad Adenauer erinnern, den "Vater der D-Mark" Ludwig Erhard, als seinen Nachfolger im Amt des Bundeskanzlers zu verhindern. Willy Brandt, der Hoffnungsträger der SPD, trat auf Druck des SPD-Fraktionsvorsitzenden Herbert Wehner als Bundeskanzler zurück, als in seinem Umfeld ein Stasi-Spion enttarnt wurde. Wehners Satz: "Der Herr Bundeskanzler badet gerne lau" war so etwas wie ein Signal zum Rücktritt. Der Machtkampf zwischen Bundeskanzler Helmut Schmidt und seinem Wirtschaftsminister Graf Lambsdorff führte zu einem Koalitionswechsel der FDP. Helmut Kohl wurde durch ein konstruktives Misstrauensvotum zum Bundeskanzler gewählt. Die sozialliberale Koalition war zerbrochen, eine neue bürgerliche Regierung übernahm die Macht und regierte 16 Jahre lang. Immer wieder gab es in dieser Zeit laute Auseinandersetzungen zwischen dem CDU-Vorsitzenden Helmut Kohl und dem CSU-Vorsitzenden Franz-Josef Strauß.

Ein ähnlicher Kampf fand unmittelbar nach der Gründung des Landes Nordrhein-Westfalen statt. Er fand zwischen Konrad Adenauer und Karl Arnold statt. Karl Arnold wäre gerne der erste Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen geworden. Stattdessen ernannte die britische Besatzungsmacht am 26. Juli 1946 den früheren westfälischen Oberpräsidenten Rudolf Amelunxen. Karl Arnold wurde erst im 2. Kabinett Amelunxens stellvertretender Regierungschef. Wie konnte das geschehen? Warum beteiligte sich die CDU nicht an der ersten ernannten Regierung? Folgt man der gängigen Lesart der nordrhein-westfälischen Landesgeschichtsschreibung, war daran nur einer schuld, nämlich Konrad Adenauer. Da wird von einer regelrechten Intimfeindschaft gesprochen. Heinz Kühn, der spätere SPD-Ministerpräsident, schrieb sogar, Arnold habe "Adenauer gehasst" und "Adenauer hat Arnold verachtet". Rainer Barzel, damals enger Mitarbeiter Arnolds, widersprach: Er könne dies "nicht bestätigen". Adenauer "legte sich quer, weil er gegen Arnold und dessen christlichen Sozialismus tiefes Misstrauen hatte", schreiben andere. Adenauer sei auch dagegen gewesen, dass Arnold nach der ersten freien Landtagswahl am 20. April 1947, in der die CDU mit 37,6 Prozent stärkste Partei wurde, zum Ministerpräsidenten gewählt wurde.

Beide standen für zwei verschiedene politische Richtungen. Adenauer wollte, dass die neu gegründete CDU eine bürgerliche Partei der Mitte werden sollte. Arnold war dagegen für eine eher linke Position, die Vergesellschaftung von Schlüsselindustrien, wie Kohle und Stahl, für möglich hielt. Adenauer wollte eine "Partei des Volkes", eine "wirkliche Volkspartei", eine "junge soziale Volkspartei". Arnold war Föderalist. Adenauer war für eine gemeinsame Politik von Bundes- und Landespartei. Er wollte nicht, dass die CDU eine konfessionelle Partei würde. Deshalb war er gegen die Neugründung der katholischen Zentrumspartei. Arnold arbeitete mit dem Zentrum als Koalitionspartner dagegen eng zusammen. Es kämpfte also der Ministerpräsident mit seinem CDU-Fraktionsvorsitzenden. Konrad Adenauer war nämlich von Anfang Oktober 1946 bis zu seiner Wahl zum Bundeskanzler Fraktionsvorsitzender. Arnold hatte sogar Adenauer aktiv bei seiner Wahl zum ersten Vorsitzenden der CDU Rheinland am 5. Februar 1946 in Krefeld-Uerdingen geholfen. Diese Wahl wurde von dem unterlegenen Leo Schwering als "Machtergreifung Adenauers" bezeichnet. Als Adenauer dann noch am 1. März 1946 als Vorsitzender der CDU in der Bizone bestätigt wurde, war sein Aufstieg nicht mehr zu verhindern. Adenauer machte eine Blitzkarriere. Er war das neue Gesicht der CDU. Arnold und Adenauer hatten Streit, immer wieder. Aber es war ein Streit um den richtigen Weg; es gab aber keinen persönlichen Hass. Adenauer war angesichts des globalen Ost-West-Konfliktes für die Westbindung und die soziale Marktwirtschaft eingetreten. Der christliche Gewerkschaftler Arnold sprach sich für das "Ahlener Programm" aus, wonach die Ausweitung des staatlichen Einflusses in der Wirtschaft "am besten soziale Gerechtigkeit garantiere". Der eine unterstützte Ludwig Erhard, der andere wollte das "soziale Gewissen Nordrhein-Westfalens" sein. Nun übersieht dieses Kampfszenario, dass Adenauer zusammen mit Johannes Albers, dem Vertreter des linken Flügels der CDU, sowie dem Bankier Robert Pferdmenges das "Ahlener Programm" selbst geschrieben hat. Für ihn war es der erste Schritt fort vom Sozialismus, der unmittelbar nach dem Krieg in der Bevölkerung noch mehrheitsfähig war. Es war also ein Adenauer-Programm. Mit dem "Ahlener Programm" gab es mithin eine "Kompromisslinie zwischen dem katholischen Solidarismus und den liberal-marktwirtschaftlichen Tendenzen". Diese verhinderte, dass die junge Partei sich spaltete. Beide waren überzeugte Europäer. Beide waren für die neue Bundesrepublik und setzten sich für das Grundgesetz ein, der eine als Präsident des Parlamentarischen Rates, der andere als Ministerpräsident. Beide waren für die Soziale Marktwirtschaft. Adenauer wollte programmatische Klarheit, um erfolgreich Wahlkämpfe führen zu können.

Die bevorstehenden Wahlkämpfe auf Landes- und Bundesebene waren also der eigentliche Anlass für die Auseinandersetzung zwischen dem Vertreter einer traditionellen linksorientierten Politik, für die Arnold stand, und dem Vertreter einer revolutionär neuen Politik, für die Adenauer stand. Adenauer, der sich in all den Jahren als herausragender Wahlkämpfer erwies, hatte von Anfang an sein Programm durchgesetzt. Nach seinem Willen sollte dieses Programm der CDU eine eigene Identität geben. Die Kernpunkte waren: Wiederaufbau, Soziale Marktwirtschaft, Westbindung und europäische Integration. Dieses Programm war mit der Schumacher-SPD nicht durchzusetzen.

Adenauer begann seinen Aufstieg mit Unterstützung des Düsseldorfer Oberbürgermeisters Karl Arnold. Beide arbeiteten in der Aufbauphase des Landes eng zusammen. Bei Streitfragen ging es darum, wer in der CDU die Richtung vorgab. Dies sahen auch die britischen Besatzungsbehörden so. Das ergibt sich aus einer spannenden Quelle. In einer Analyse der Vorgänge in Düsseldorf, die vom "Rheinland-Westfalen militärischer Nachrichtendienst" gefertigt und als "politischer Sonderbericht Nr. 8, datiert vom 31. Oktober 1946" geheimklassifiziert worden war, beschreibt die britische Behörde das Verhaltens Adenauers:

" Eine Sache jedoch ist sicher: Sobald die Kabinettsbildung sich herauszukristallisieren begann, muss er das bemerkt haben: (a) Amelunxen war fest entschlossen, ein Kabinett zu bilden, was von der SPD und dem Zentrum dominiert wurde und (b) dass die offizielle Haltung der britischen Behörden auf eine Stärkung der SPD und des linken Flügels der CDU ausgerichtet war.

Unter diesen Umständen muss er die Gefahr eines Kontrollverlusts über den 'linken Flügel' seiner Partei und die damit verbundenen Schwierigkeiten, die er zwangsläufig erleben musste und die jedenfalls bei einer Beteiligung an einem politischen Kabinett unüberwindbar werden würden, vorausgesehen haben. Er konnte es sich nicht leisten, dass der 'linke Flügel' seiner Partei in eine untergeordnete Position zusammen mit der SPD und dem Zentrum gedrängt wurde.

Abgesehen von jeder anderen Betrachtungsweise, könnte Adenauer daher nur über eine Kooperation nachgedacht haben unter der Voraussetzung, dass die CDU eine dominante Position im Kabinett beibehielt.

Adenauer war, auch wenn man ihm die Glaubwürdigkeit für die Planung der Ereignisse von Anbeginn an abspricht, zumindest von Glück gezeichnet, insofern als dass die SPD und die Briten ihm in die Hände spielten und ihn mit passenden Entschuldigungen versorgten, sich der Verantwortung des Kabinetts in gerechtfertigter Empörung zu entziehen. So hat er auf jeden Fall klug die Gelegenheit ergriffen, als sie ihm geboten wurde, so dass es ihm möglich war, seine ganze Partei und insbesondere den 'linken Flügel' davon zu überzeugen, dass sie die Opfer einer niederträchtigen Konspiration der Weimarer Linie waren. Dies führte nicht nur zu ausgezeichneter Propaganda für die anstehenden Wahlen, sondern konsolidierte alle Teile seiner Partei hinter ihm. Adenauers Erfolg ist in den beiden Bemerkungen zusammengefasst: Adenauer - 'für uns ist die Opposition eine Goldmine', Arnold - 'die CDU hatte keine opportunistischen Motive, als sie sich weigerte, sich am Kabinett zu beteiligen, sondern sie wurde gezwungen'."

Ausweislich dieses geheimen Berichtes hatten Adenauer und der SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher am 20. Juli 1946 Vorschläge für das Amt des Ministerpräsidenten bei den britischen Besatzungsbehörden eingereicht. Schumacher schlug vor: "a) Reuthers (wohnhaft in Ankara), SPD. b) Fries (Regierungspräsident Arnsberg), SPD."

Adenauer schlug am gleichen Tag ebenfalls zwei Namen vor: "a) Zuhorn (Münster-Bürgermeister des Neuen Landes), CDU. b) Amelunxen (Oberpräsident Westfalen), parteilos." Weiterhin wurden "zwei politisch diverse" Persönlichkeiten von nicht genannten Personen vorgeschlagen: "a) Arnold (Oberbürgermeister Düsseldorf), CDU. b) Sholtizek (Oberbürgermeister Dortmund), CDU."

Der britische General Balfour sprach dann am 22. Juli folgende Empfehlung aus: "Dr. Amelunxen für den Posten des Ministerpräsidenten, Arnold als stellvertretender Ministerpräsident und zweiter Kandidat für den Posten des Ministerpräsidenten. Amelunxen scheint der einzig erfahrene Kandidat zu sein. Arnold wird als Person mit fehlender Persönlichkeit und administrativer Erfahrung angesehen."

Der Vermerk berichtet weiter, dass General Balfour der Auffassung war, dass der "Posten nicht an ein Mitglied der SPD vergeben werden sollte, da es ansonsten der Lächerlichkeit preisgegeben sein würde, wie die Position des SPD-Ministerpräsidenten in Bayern, denn es wäre nahezu sicher, dass die CDU die Mehrheit erlangen würde."

Der Vermerk enthielt im Weiteren folgende Anmerkung: "Amelunxen war Adenauers Wunschkandidat, da er 'kein besseren' wüsste."

Am 24. Juli 1946 wurde Dr. Rudolf Amelunxen zum Ministerpräsidenten ernannt. Konrad Adenauer kannte Amelunxen, der in Köln geboren war, aus Schülerzeiten, "zuerst als Sextaner im Apostel-Gymnasium, später während gemeinsam erlittener Verfolgung durch die Nationalsozialisten.

Die CDU trat nicht in das erste Kabinett Amelunxens ein, weil Karl Arnold nicht das Amt des Innenministers verbunden mit der Position des stellvertretenden Ministerpräsidenten übernehmen konnte. Amelunxen und die SPD hatten sich dagegen ausgesprochen. Konrad Adenauer wollte nicht, dass die CDU in ein von "linken" Politikern und Parteien dominiertes Kabinett eintrat. Arnold wurde "trotz aller Einwände Adenauers" wenige Monate später im zweiten Kabinett Amelunxens stellvertretender Regierungschef. Am 17. Juni 1947 wurde er dann vom Düsseldorfer Landtag zum Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen gewählt.

Der unbekannte Verfasser des Geheimberichtes, der im Hauptstaats-archiv in London aufbewahrt wird, begann seinen Bericht, den er als "teils erzählend und teils spekulativ sowie teilweise als Kommentar" zu betrachten bat, mit folgenden Worten: "Im Nachhinein ist man immer klüger; andererseits ist es besser, einen Fehler spät einzusehen, als nie. Dies ist in vielerlei Hinsicht sowohl ein banaler wie auch ein verspäteter Bericht, aber in der Hoffnung geschrieben, dass diese Analyse, die versucht, eines unserer ersten demokratischen Experimente darzustellen, von einigem Nutzen für die Zukunft sein wird. Es ist sicherlich nicht als eine Rechtfertigung für unseren diplomatischen Scharfsinn gedacht oder als eine Art von 'wir haben es Euch doch gesagt'."

Heute, nach 70 Jahren, können wir mit Gewissheit sagen: Das Experiment Demokratie ist gelungen.

Unser Autor war Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen und Bundesbildungsminister.

(RP)
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