Analyse Italiens Abschied vom Marxismus

Rom · Von Seiten der Gewerkschaften bekommt Italiens reformfreudiger, junger Ministerpräsident Matteo Renzi kräftig Gegenwind. Nur sehr mühsam räumt Italien mit seinem kommunistischen Erbe auf.

Die Luft wird dünner für Ministerpräsident Matteo Renzi. Vor allem die Gewerkschaften hat der 39-Jährige gegen sich aufgebracht. Sicherheitsleute, Rettungskräfte und Pflegepersonal gingen gestern in Rom auf die Straße. Zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit demonstrierten Tausende gegen den Reformkurs in Italien. Seitdem Renzi im Amt ist - und das sind erst neun Monate - kündigt er neue Reformen im Akkord an. Der jüngste Regierungschef der EU hatte bereits zu Beginn seiner Amtszeit eine Wahlrechtsreform angekündigt, durch die in Rom stabilere Mehrheiten möglich sind. Dazu eine Verfassungsänderung zur Abschaffung der Provinzen.

Während er in Europa für seine Initiative und seine Sparmaßnahmen gelobt wird, vergrößert sich der Widerstand im eigenen Land. Der aktuelle Protest richtet sich gegen Pläne der Mitte-Links-Regierung, die auch im öffentlichen Bereich Kürzungen vorsehen. Die Beschäftigten fordern unter anderem eine Erhöhung der seit Jahren eingefroren Gehälter öffentlicher Stellen. Die Gewerkschaft CGIL droht mit weiteren Streiks im Dezember, sollten die drei Millionen Beamte keine Erhöhung ihrer Gehälter bekommen.

Bei einer Arbeitslosenquote von 12,6 Prozent und einer Jugendarbeitslosigkeitsquote, die mit 44,2 Prozent einen Rekordwert erreicht hat, besteht dringender Handlungsbedarf in Italien. Matteo Renzis Lösung: Eine Lockerung des Kündigungsschutzes, damit mehr Menschen eingestellt werden können. Seine Gegner werfen ihm nun vor, er beschneide damit nur die Arbeitnehmerrechte.

Das Parlament soll noch bis zum Jahresende über die umstrittene Arbeitsmarktreform abstimmen. Allerdings braucht Renzi dafür eine Zweidrittelmehrheit. Und diese Entscheidung hängt ausgerechnet von seinem Gegner Silvio Berlusconi ab. Mit ihm hat Renzi einen Pakt für die Verfassungsreformen geschlossen - wie stabil dieser ist, muss sich erst noch zeigen. Erst vor einigen Wochen gewann Renzi eine Vertrauensabstimmung im Parlament, bei der die Mehrheit der Abgeordneten für ihn votierte.

Offensichtlich ist Italiens Mitte-Links-Partei gerade dabei, einen Schritt zu tun, wie ihn 1959 die deutsche SPD gewagt hat. So hat es die Wirtschaftszeitung "Il Sole 24 Ore" beobachtet, als sie neulich von "Renzis Bad Godesberg" schrieb. Ganz Unrecht mit dem historisch gewagten Vergleich hat das vom Industriellenverband finanzierte Blatt nicht. Versucht der Ministerpräsident doch, seinen postkommunistisch-sozialdemokratischen Partito Democratico (PD) auf ganz neue Wege zu leiten. Wie sich die SPD 1959 mit dem Godesberger Programm vom Marxismus distanzierte, zur Volkspartei entwickelte und wenig später 13 Jahre lang den Bundeskanzler stellte, so dürfte sich auch Renzi die Zukunft des von ihm geführten politischen Vehikels vorstellen, das lange kaum mehrheitsfähig war.

Der aufstrebende Florentiner will seine Sozialdemokraten zur "Partei der Nation" machen. Das ist der Begriff, den der seit Februar amtierende Premier verwendet, wenn er von der Zukunft des PD spricht. Renzi versteht darunter eine Partei, die sich von aller Ideologie des 20. Jahrhunderts befreit hat und bei Wahlen auf bis zu 50 Prozent der Stimmen zielen kann. Dass dieser Anspruch nicht völlig unrealistisch ist, hat Renzis außerordentliches Ergebnis bei der Europawahl bewiesen, als die Partei 41 Prozent der Stimmen erreichte.

Obwohl Renzis Reformen stocken, schlagen sich Unternehmer öffentlich auf seine Seite. Auch im konservativen Wählerspektrum, das seit dem Machtverlust Silvio Berlusconis völlig unstrukturiert ist, wird der oft populistisch agierende Renzi respektiert.

Ernsthafte Alternativen zu ihm gibt es im Moment nicht. Wie schwer besonders der Linken der Wandel fällt, zeigt sich bei der aktuellen Auseinandersetzung um die Arbeitsmarktreform. Mühsam verabschiedet sich Italien im Jahr 2014 von seinem kommunistischen Erbe. In Brüssel und Berlin gilt die "Jobs Act" genannte Reform als Nagelprobe für die Reformfähigkeit Italiens. Matteo Renzi, der sich in der Tradition Tony Blairs und Gerhard Schröders sieht, die Großbritannien und Deutschland vor Jahren mit umstrittenen Sozialreformen modernisierten, will den erstarrten Arbeitsmarkt lockern: Während bisher ältere Arbeitnehmer von Privilegien profitieren und so gut wie unkündbar sind, müssen sich junge Italiener mit Arbeitslosigkeit, Kurzverträgen und dem Prekariat abfinden. Nicht nur die Gewerkschaften protestieren mit ihren Demonstrationen heftig gegen diese geplanten Veränderungen. Insbesondere der linke Flügel des PD verteidigt den Status quo. Als "wirtschaftlichen Suizid" und Verhinderung von Beschäftigung bezeichnete das "Wall Street Journal" kürzlich diese Haltung.

Das alte linke Erbe Italiens wiegt besonders schwer. Das Land hatte die stärkste kommunistische Partei des Westens, aus deren Trümmern letztlich die "Demokratische Partei" hervor gegangen ist. Die meisten Parlamentarier verdanken ihren Einzug ins Abgeordnetenhaus Renzis Vorgänger als Parteichef, Pierluigi Bersani, einem ehemaligen Kommunisten. Manchmal wirkt es so, als lege es der Ministerpräsident ganz bewusst auf einen Bruch mit dem linken Flügel der Genossen an. Etwa, wenn er wie jetzt ein Ultimatum stellt: Am 1. Januar 2015 muss die Arbeitsmarktreform in Kraft treten, gab Renzi bekannt. Längst ist die Rede von einer Spaltung der Partei. Käme es zum Bruch, wären wie so oft in Italien Neuwahlen die Folge. Diesmal allerdings könnten sie das Ende des ständigen politischen Umschwungs und den Beginn einer neuen Ära begründen.

(RP)
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