Istanbul Mehr als 30 Tote bei Zusammenstößen in der Türkei

Istanbul · In der Nacht zu gestern sind Hunderte Kurden und Islamisten in der südosttürkischen Stadt Gaziantep aufeinander losgegangen. Vier Menschen kamen ums Leben. Damit erhöht sich die Gesamtzahl der Toten nach den jüngsten Unruhen im Land auf 35. Einige Beobachter fühlen sich an die Auseinandersetzungen der 70er Jahre erinnert, die zum Militärputsch führten.

Bei der Gewaltwelle geht es inzwischen nur noch am Rande um die Lage in der nordsyrischen Stadt Kobane, die von Kurden seit vier Wochen gegen die Belagerung durch die Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) verteidigt wird. In Kobane selbst gingen gestern die Luftangriffe der USA und ihrer Verbündeten auf Stellungen des IS weiter. Nach Medienberichten kontrolliert die Terrormiliz inzwischen auch fast 40 Prozent des Stadtgebietes.

Die türkischen Truppen an der syrischen Grenze in unmittelbarer Nähe zu Kobane unternehmen jedoch weiterhin nichts, um den Kurden zu helfen, obwohl auch die UN inzwischen Unterstützung fordert. Der UN-Syrienbeauftragte Staffan di Mistura rief Ankara auf, kurdischen Kämpfern von der Türkei aus den Zutritt nach Kobane zu erlauben. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte Ankara erneut den Schutz des Bündnisses zu. Sollte der IS Kobane erobern, hätten die sunnitischen Extremisten einen durchgängigen Grenzstreifen von mehr als 200 Kilometern zur Türkei unter ihrer Kontrolle.

Ankaras Haltung im Fall der Grenzstadt Kobane hatte Anfang der Woche viele Kurden auf die Straßen der türkischen Städte getrieben. Seitdem stehen sich häufig Anhänger der kurdischen PKK und Islamisten gegenüber - oft kämpfen dabei Kurden gegen Kurden. Die islamistische Hüda-Partei, deren Mitglieder sich in den vergangenen Tagen tödliche Kämpfe mit PKK-Unterstützern lieferten, ist insbesondere im Kurdengebiet stark. Sie erwuchs aus der türkischen Hisbollah, die in den 90er Jahren einen blutigen Feldzug gegen die PKK führte.

Die Hüda-Partei distanzierte sich zwar vom IS. Möglicherweise aber hat die Terrorgruppe in der Türkei mehr Anhänger als bisher angenommen. Nach einer Umfrage sehen zehn Prozent der Türken die Dschihadisten nicht als Terrororganisation. Auch die Universitäten der Türkei geraten in den Strudel der Gewalt. Hier bekämpfen sich vorwiegend linke und islamistische Studenten.

Beobachter warnen vor einer noch gefährlicheren Eskalation, die bevorstehen könnte. Die Kommentatorin Nazli Ilicak, eine ehemalige islamistische Parlamentsabgeordnete, die sich von der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP abgewandt hat, vergleicht die Lage mit der Situation in den 70er Jahren. Damals bekämpften sich linke und rechte Gruppen auf den Straßen des Landes, brachten die Türkei an den Rand des Bürgerkriegs, was schließlich den Putsch von 1980 auslöste. "Wir haben das alles schon einmal erlebt", schrieb Ilicak in der Zeitung "Bugün".

Die Regierung von Ministerpräsident Ahmet Davutoglu sucht die Schuldigen für die jüngste Eskalation ausschließlich in den Reihen der linken und kurdischen Opposition, denen sie Landesverrat vorwirft, weil sie die Haltung Ankaras in der Kobane-Frage kritisiert.

(RP)
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