Analyse Mehr Arzneitests an Demenzkranken

Berlin/Düsseldorf · Geht es nach der Bundesregierung, soll an Demenzkranken umfassender geforscht werden, um der gesamten Gruppe der Patienten zu helfen. Im Bundestag ist nun ein heftiger Streit über Wissenschaftsethik entbrannt.

In Deutschland leben etwa 1,6 Millionen Demenzpatienten, Tendenz steigend. Experten der Deutschen Alzheimer Gesellschaft rechnen damit, dass die Zahl der Erkrankten bis 2050 auf drei Millionen steigen könnte. Weltwelt gibt es derzeit 46 Millionen Patienten, im Jahr 2050 voraussichtlich schon mehr als 130 Millionen. Demenzforschung hat allein aufgrund dieser Zahlen enorme Relevanz für die Universitätsmedizin und Arzneimittelhersteller. Doch in Deutschland tobt derzeit eine heftige Auseinandersetzung darüber, welche Grenzen die Bundesregierung für wissenschaftliche Studien ziehen soll. Längst herrscht ein ethisch aufgeladener Lagerkampf zwischen jenen, die die Forschung ausweiten wollen, und jenen, die die Risiken hervorheben, um an der bestehenden Gesetzeslage festzuhalten.

Auf der einen Seite stehen Gesundheitsminister Hermann Gröhe und Forschungsministerin Johanna Wanka (beide CDU). Sie wollen erreichen, dass Demenzkranke künftig auch dann an Arzneimitteltests teilnehmen können, wenn sie zu dem Zeitpunkt aufgrund ihrer Krankheit nicht mehr einwilligungsfähig sind. Voraussetzung soll sein, dass sie im gesunden Zustand eine entsprechend formulierte Patientenverfügung unterschrieben haben und - das ist bereits ein Kompromissvorschlag - von einem Arzt verpflichtend über Risiken aufgeklärt wurden.

Das Besondere: Bei dieser geplanten Änderung des Arzneimittelgesetzes hätten die Studienteilnehmer selbst keine Aussicht darauf, dass ihnen die Ergebnisse der Tests noch helfen könnten. Fachleute sprechen in solchen Fällen - entgegen der üblichen Studien mit direktem, individuellem Nutzen für die Teilnehmer - von der so genannten Gruppennützigkeit. Die Ergebnisse dieser solidarischen Forschungspraxis helfen also im Zweifel der gesamten Gruppe der Demenzkranken - nicht aber dem einzelnen Patienten während der Studie. Mehr noch: Er hätte dadurch eher Nachteile, etwa wegen vermehrter Klinikaufenthalte mit belastenden Prozeduren wie Blutabnahmen.

Der CDU-Abgeordnete Hubert Hüppe, bis 2014 Behindertenbeauftragter der Regierung, schwang sich auch deshalb zum Wortführer der Gegner des Gesetzesvorhabens auf. Er nennt zwei wesentliche Kritikpunkte: Einerseits gebe es kaum Bedarf an den Studien. "Niemand konnte mir einen Beleg für die Erforderlichkeit rein gruppennütziger Forschung an Nichteinwilligungsfähigen, und damit für eine eklatante Absenkung des Schutzniveaus bringen", sagte Hüppe unserer Redaktion. Andererseits hält er für "besorgniserregend", dass die Verfechter angeben, sich eigentlich "eine generelle Regelung ohne Patientenverfügung" zu wünschen. Das deute auf die Absicht hin, einmal beschlossene Regeln in Zukunft aufweichen zu wollen.

Beschließt die Bundesregierung jedoch kein eigenes Gesetz, würde ab Ende 2018 hierzulande eine EU-Verordnung gelten, wonach "klinische Prüfungen mit nicht einwilligungsfähigen Prüfungsteilnehmern" grundsätzlich erlaubt sein sollen, wenn der rechtliche Betreuer eines Demenzkranken die Einwilligung gibt und eine Ethikkommission den Aufbau der Studie genehmigt. Tests an Menschen, die von Geburt an behindert sind, und an Kindern, bleiben ausgeschlossen.

Gröhe will nach eigenem Bekunden den Kompromiss: Dass die Forschung mehr Freiheiten erhält und die Patienten dennoch ausreichend geschützt sind. "Wenn wir das nicht selbst in Deutschland regeln, gilt die viel weitreichendere Regelung der EU unmittelbar", sagte Gröhe. Sein Parteifreund Hüppe erreichte am vergangenen Dienstag aber, dass sich der Bundestag nur zwei Tage später nicht mit der Gesetzesänderung befassen durfte. Union und SPD strichen den Punkt von der Tagesordnung. In den Fraktionssitzungen entbrannte eine ausgedehnte Debatte, Gröhe und Wanka waren düpiert.

Tatsächlich wirft dieser Fall in der Arzneimittelforschung einmal mehr die ethische Frage auf, wer eigentlich ein Interesse an derlei Studien hat. Deutschland ist nach den USA weltweit immerhin die Nummer zwei bei der Erprobung neuer Medikamente. Die forschenden Pharmakonzerne jedenfalls wiesen ein Interesse bereits zurück. Für die eigene Entwicklungsarbeit benötige man keine Gesetzesänderung, teilte der Verband VfA mit. Die Universitätskliniken hingegen pochen auf die Weitung. Wolfgang Maier von der Uniklinik Bonn und das Netzwerk der Koordinierungszentren für klinische Studien argumentieren, gruppennützige Studien seien "angesichts mangelnder aktueller Therapiemöglichkeiten notwendig." Statt ein kommerzielles Interesse zu haben, gehe es darum, evidenzbasiert die Therapie zu verbessern. Und: Häufig ließen sich Testergebnisse aus früheren Krankheitsstadien nicht übertragen.

Doch daran knüpft direkt ein weiteres ethisches Problem an: Sollte es hierzulande zu einem Verbot dieser Forschung kommen, dürften dann Medikamente eingesetzt werden, die in anderen Ländern unter eben solchen Umständen entwickelt wurden? Maier weist darauf hin, dass das bisher einzige Medikament gegen Alzheimer-Demenz mithilfe gruppennütziger Studien aus dem Ausland zugelassen worden sei.

Im Bundestag dürfte die Debatte also allein wegen dieser Frage noch mehrere Wochen andauern. Das jedenfalls hofft CDU-Mann Hüppe. Sollte die Bundesregierung auf eine Entscheidung in der nächsten Sitzungswoche drängen, die am 20. Juni beginnt, "bleibe nicht viel Zeit für sorgfältige Prüfung und ethische Reflexion neuer Vorschläge", sagte Hüppe. Er warnte davor, "den Eindruck zu erwecken, das Thema solle ohne große Diskussion durch den Bundestag gepeitscht werden." Es gehe immerhin um den Bruch eines Tabus, das 70 Jahre gehalten habe.

(RP)
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