Analyse Mehr Jobs, weniger Ungleichheit

Berlin · Deutschland zählt weltweit zu den Ländern mit der geringsten Einkommensungleichheit. Der massive Abbau der Arbeitslosigkeit seit 2005 hat nach einer neuen Studie dazu beigetragen, dass die Spreizung verringert wurde.

Analyse: Mehr Jobs, weniger Ungleichheit
Foto: Schnettler

Von Winston Churchill sind viele kluge Sätze überliefert, doch einer wird bis heute besonders oft zitiert: "Ich glaube nur der Statistik, die ich selbst gefälscht habe", pflegte der britische Premier zu scherzen. Viel Wahrheitsgehalt hat dieser Satz, bezieht man ihn auf eines der heikelsten und meistdiskutierten gesellschaftlichen Themen, die Frage der Einkommensverteilung.

Dabei erregen regelmäßig solche Datensammlungen und Analysen die größte Öffentlichkeit, die belegen können, dass die ungleiche Verteilung bei Einkommen und Vermögen weiter zugenommen habe. Andere Studien hingegen, die das Gegenteil zumindest bei der Einkommensentwicklung zeigen können, werden zu Unrecht seltener beachtet.

Im Dezember 2017 hatte zunächst eine Forschergruppe um den berühmten französischen Ökonomen Thomas Piketty für viel Aufsehen gesorgt. Piketty, einer der großen Ungleichheitspropheten unserer Zeit, und seine Kollegen vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) bestätigten eine weit verbreitete Auffassung: Die Ungleichverteilung der Einkommen sei auch in Deutschland enorm gewachsen. Sie sei heute wieder so groß wie zu Zeiten des Kaiserreichs vor 100 Jahren, behauptete die Gruppe.

Allerdings erwähnte Piketty nur im Nebensatz, dass sich seine Daten auf die Einkommensverteilung vor Steuern und Abgaben beziehen. Nach der Umverteilung durch Steuern und Sozialabgaben, die etwa 40 Prozent der Wirtschaftsleistung ausmachen, gehört Deutschland zu den Ländern mit der geringsten Einkommensungleichheit.

Ausgedrückt wird das im internationalen Vergleich durch den Gini-Koeffizienten. Deutschland kommt nach der Umverteilung durch Steuern und Sozialabgaben auf einen Gini-Koeffizienten von 0,29. Je näher die Zahl an der eins liegt, desto ungleicher ist die Verteilung. Die USA etwa erreichen einen Wert von 0,46, und selbst das kommunistische China kommt heute bereits auf einen Wert von 0,47.

In den vergangenen zwölf Jahren haben sich die Dinge in Deutschland wegen des massiven Beschäftigungsaufbaus weiter deutlich verbessert. Das kann Andreas Peichl, Forscher am Münchner Ifo-Institut, mit neuen Daten nachweisen. Die Lohnungleichheit nur unter Beschäftigten sei zwar auch in diesen Jahren gewachsen. Zwischen 1996 und 2013 konnten die 15 Prozent der Erwerbstätigen am oberen Ende der Lohnskala ihre Einkommen um 25 Prozent steigern, die unteren 15 Prozent dagegen nur um 5,5 Prozent. Doch diese Betrachtungsweise sei zu eindimensional, argumentiert Peichl. Um die gesamtgesellschaftliche Entwicklung der Einkommensverteilung beurteilen zu können, müsse man mitberücksichtigen, wie sich die Verteilung in der Erwerbsbevölkerung verändert habe. Anders als 2005 seien heute weniger arbeitslos, sei die Frauenerwerbstätigkeit deutlich gestiegen, würden mehr ältere Arbeitnehmer beschäftigt und auch mehr Hochqualifizierte.

Mit anderen Worten: Die Zusammensetzung der Schar der Arbeitnehmer entscheidet mit darüber, wie sich die Einkommensverteilung verändert. Nimmt die Lohnspreizung zu, bedeutet dies nicht zwangsläufig, dass die Gesellschaft sozial ungerechter geworden ist. Sind etwa weniger Menschen arbeitslos und erwirtschaften ein eigenes Einkommen, liegt es in der Regel höher als das Arbeitslosengeld. Dadurch nehmen die Einkommen vor allem am unteren Ende der Skala zu. Peichl schlussfolgert: Allein durch den massiven Abbau der Arbeitslosenzahl um fast drei Millionen seit 2005 konnte die Einkommensungleichheit gesamtgesellschaftlich gesehen verringert werden. "Die Ungleichheit war früher größer, weil die Arbeitslosigkeit viel höher war", sagt Peichl.

Umgekehrt gebe es aber auch Effekte, die zu einer wieder steigenden Einkommensungleichheit beitragen könnten, die aber ebenfalls nichts mit einer politisch zu korrigierenden Ungleichheit zu tun hätten. Denn steige etwa der Anteil der Höherqualifizierten an der Gesamtbeschäftigung, sei dies erwünscht und würden allein deshalb die Einkommen am oberen Ende tendenziell schneller steigen. Ebenso trage die zunehmende Frauenerwerbstätigkeit dazu bei, dass besserverdienende Haushalte ihre Einkommen steigern könnten. Genauso verhalte es sich mit dem steigenden Anteil älterer Arbeitnehmer, weil diese in der Regel höhere Einkommen erzielten als jüngere, argumentiert Peichl.

Ist also alles gut in Deutschland? Nein, denn nach wie vor gilt, dass Kinder aus sozial benachteiligten Familien seltener als anderswo auf höhere Schulen gehen und seltener den Aufstieg schaffen. Der Staat müsse viel entschiedener in frühkindliche Bildung und weniger in bloße Betreuung oder Beton investieren. "Die mangelnde Chancengerechtigkeit bleibt das größte Problem Deutschlands im internationalen Vergleich", sagt Peichl. Dringend geboten sei auch viel mehr Engagement bei Qualifizierung und Weiterbildung von Langzeitarbeitslosen, Schulabbrechern und sonstigen benachteiligten Gruppen, meint auch Karl Brenke vom DIW. "Dabei spielt auch die Flüchtlingsmigration der vergangenen zwei Jahre eine wichtige Rolle. Sie steigern den Anteil der Armen in der Gesellschaft." Der Keim für ein Prekariat sei hier bereits gelegt, weil die Arbeitsmarktintegration der Migranten zu langsam vorangehe.

Wichtig sind aber auch Neujustierungen bei den Sozialtransfers. Für Alleinerziehende etwa, die mehrere Transferleistungen wie Arbeitslosengeld II, Kinderzuschläge und Wohngeld beziehen können, lohnt sich eine Ausweitung ihrer Erwerbstätigkeit oft nicht, weil ihnen 100 Prozent des Erwirtschafteten durch Anrechnung wieder abgenommen werden können. Immerhin hat die mögliche große Koalition dieses Problem erkannt: Sie will es wirklich angehen, sofern sie zustande kommt.

(mar)
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