Istanbul Merkel besucht türkisches Vorzeige-Flüchtlingslager

Istanbul · Der Vorwurf, dass Islamisten Einfluss auf Flüchtlingskinder ausüben, überschattete den Besuch.

Bundeskanzlerin Angela Merkel und die EU geraten bei ihrer Zusammenarbeit mit der Türkei in der Flüchtlingsfrage immer weiter unter Druck. Während Merkels Besuch in einem türkischen Flüchtlingslager nahe der syrischen Grenze wurde der Vorwurf laut, dass Islamisten die Schulausbildung für syrische Flüchtlingskinder in der Türkei für ihre Zwecke ausnutzen. Bei dem als Werbung für den umstrittenen Flüchtlings-Deal gedachten Besuch von Merkel, EU-Ratspräsident Donald Tusk und Kommissionsvize Frans Timmermans in Nizip erinnerten die türkischen Gastgeber zudem an die EU-Zusage der Visafreiheit. Ministerpräsident Ahmet Davutoglu betonte, die Rücknahme von Flüchtlingen aus Europa durch die Türkei werde nur funktionieren, wenn die Visapflicht für Türken abgeschafft werde.

Ursprünglich hatte die Bundeskanzlerin die Grenzstadt Kilis besuchen wollen. Wegen des ständigen Beschusses der Stadt durch die Kämpfer des Islamischen Staates (IS) war die Visite jedoch in die Kleinstadt Nizip, rund 20 Kilometer nördlich der syrischen Grenze, verlegt worden. Dort schaute sich Merkel in einem Flüchtlingslager eine Schule an, in der syrische Lehrer die Kinder der Flüchtlinge unterrichten.

Das Gedränge war groß. Schaulustige wollten die Besucherin sehen, Flüchtlinge hofften auf einen Händedruck oder ein Selfie. Da musste Angela Merkel schon aufpassen, dass sie niemandem auf die Füße tritt - vor allem politisch. Und so hörte man von der Bundeskanzlerin vor allem Lob für den Gastgeber, den türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu. Mit der Aufnahme von drei Millionen Menschen habe die Türkei "den allergrößten Beitrag" bei der Bewältigung der Flüchtlingsströme übernommen, sagte Merkel. Tusk stimmte zu: Die Türkei sei "das beste Beispiel für die ganze Welt, wie wir mit Flüchtlingen umgehen sollten". Keiner habe das Recht, "belehrend auf die Türkei einzuwirken". Da applaudierte Premier Davutoglu spontan und kräftig. In der Inszenierung des Ministerpräsidenten wirken die Besucher aus Berlin und Brüssel wie Statisten. Das Flüchtlingslager Nizip gilt als Vorzeigeeinrichtung. Auch das mit EU-Geldern finanzierte Kinderschutzzentrum des Uno-Kinderhilfswerks UNICEF, das Davutoglu mit seinen Gästen einweihte, hat Vorbildfunktion.

Doch der regierungskritische türkische Journalist Abdullah Bozkurt warnt, die Schulbildung für syrische Kinder in der Türkei liege in der Hand von Islamisten. In vielen der für die Flüchtlinge eingerichteten Behelfsschulen seien islamistische Verbände aktiv, die von der islamisch-konservativen Regierung dazu ermuntert würden, schrieb Bozkurt auf Twitter. "Offenbar betrachtet die türkische Regierung die Schulbildung für syrische Jugendliche als Instrument zur Erziehung einer islamistischen Generation, die ihre eigene Ideologie unterstützt."

Mehrmals hatte Ankara damit gedroht, die Vereinbarung mit Europa aufzukündigen, wenn die EU beim Thema Visa zögern sollte. Angesichts der Tatsache, dass der Deal in den vergangenen Wochen die Zahl der in Griechenland ankommenden Flüchtlinge rapide sinken ließ, hat die Drohung für Merkel und andere EU-Politiker Gewicht. Nach UN-Angaben kommen täglich nur noch rund 130 Menschen aus der Türkei in Griechenland an - im März waren es noch 870, im vergangenen Sommer zeitweise mehrere tausend.

Das türkische Parlament beginnt in den kommenden Tagen mit der Verabschiedung neuer Gesetze für das visafreie Reisen, für das laut Davutoglu bis Ende Mai alle Voraussetzungen unter Dach und Fach sein sollen. Einen Monat später sollen Türken laut Ankara visafrei nach Europa reisen dürfen. In der EU und auch in den deutschen Unionsparteien ist das Thema jedoch umstritten. Laut Medienberichten sind Deutschland und andere EU-Staaten gegen eine Aufhebung der Visabeschränkungen - doch dies dürfte von der Regierung in Ankara als unannehmbar abgewiesen werden.

Beim Thema Presse- und Meinungsfreiheit zeigte sich Ankara von europäischer Kritik unbeeindruckt. Davutoglu rechtfertigte das Einreiseverbot für den ARD-Journalisten Volker Schwenck mit den Worten, der Reporter sei in der Türkei nicht akkreditiert. Während Merkels Besuch wurde eine niederländische Journalistin in der Türkei wegen ihrer Kritik an Präsident Recep Tayyip Erdogan festgenommen. Erst nach mehreren Stunden in Gewahrsam wurde sie freigelassen. Davutoglu spielte bei einer Pressekonferenz mit Merkel, Tusk und Timmermans auch auf den Fall des Komikers Jan Böhmermann an. Die Pressefreiheit hänge auch mit der Menschenwürde zusammen, sagte er. Merkel räumte ein, sie sei nicht immer einer Meinung mit der Türkei.

(RP)
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