Kolumne Frauensache Merkel ist Kanzlerin, keine "Mutti"

Die heute gängige Interpretation von Angela Merkel als Mutti der Nation ist ein Irrtum. Im Kanzleramt sitzt keine Queen Mum und auch keine Mutter Beimer. Dort residiert eine Frau, die rational und pragmatisch regiert.

Das Mutterband ist nicht so rasch geknüpft, dies geschieht nur durch eine lange persönliche Bekanntschaft", schrieb der schwedische Schriftsteller August Strindberg. Zumindest eine längere Bekanntschaft verbindet die Deutschen mit Angela Merkel, die sie einst als Kohls Mädchen kennenlernten und heute Mutti nennen. Wer die Kanzlerin zur Mutti gemacht hat, ist nicht mehr exakt zu rekonstruieren. Angeblich soll es der ehemalige Bundeswirtschaftsminister Michael Glos gewesen sein.

Also einer jener älteren Herren aus der Union, die eine wie Merkel als Anführerin einer konservativen Partei für einen Unfall der Geschichte hielten. Das war zu Zeiten der großen Koalition von 2005 bis 2009, als das Schlagwort von der Sozialdemokratisierung der CDU erstmals die Runde machte und Merkel mit dem Vorbild der schwäbischen Hausfrau staatliche Finanzpolitik erklärte. Damals war der Name Mutti despektierlich gemeint, er sollte Merkel in die Ecke der Trutschigen und Unbedarften stellen. Welch Irrtum!

Ein ebensolcher Irrtum ist allerdings auch die heute gängige Interpretation von Angela Merkel als Mutti der Nation. Im Kanzleramt sitzt keine Queen Mum und auch keine Mutter Beimer. Dort residiert eine Frau, die rational und pragmatisch regiert und für die weder die große Geste noch das Emotionale eine politische Kategorie sind.

Das hat sich vergangene Woche gezeigt, als Merkel auf einer Veranstaltung in Rostock Reem begegnet, einem palästinensischen Flüchtlingsmädchen. Reem erzählt von dem Schicksal ihrer Familie, die vor vier Jahren in Deutschland Asyl gesucht habe und deren Aufenthaltsstatus immer noch geprüft werde. Reem erzählt auch, dass sie hier studieren und das Leben genießen wolle. So mancher Spitzenpolitiker hätte diese Situation wohl genutzt, um sich der Volksseele anzubiedern und Reems Schicksal zur Chefsache erklärt. Merkel hat das nicht getan. Sie hat dem Mädchen gesagt, dass es in den Flüchtlingslagern im Libanon Tausende und Tausende gebe, die wir nicht alle zu uns holen könnten. Das ist ein realistischer, pragmatischer Satz. Eben ein Kanzlerinnen-Satz und kein Mutti-Spruch.

Das ist aber noch nicht das Ende der Geschichte: Als der Moderator das Gespräch fortsetzt, bemerkt Merkel, das Reem weint. Sie geht zu ihr, streicht über ihren Kopf und sagt: "Du hast das doch prima gemacht." In diesem Moment hat weder die Mutti noch die Kanzlerin gestreichelt, sondern ein Mensch.

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(RP)
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