Düsseldorf MH 17-Abschuss: Die Spur führt nach Russland

Düsseldorf · Es war eine russische Rakete, ermittelten private Rechercheure. Doch diese Schuldzuweisung liegt nicht im Interesse westlicher Regierungen.

Die neue EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini will die Sanktionen gegen Russland lockern. Für die Sitzung der EU-Außenminister am kommenden Montag hat sie ein entsprechendes Diskussionspapier erarbeitet. Doch ihr Vorstoß kommt zur Unzeit: Die Krise in der Ost-Ukraine hat sich wieder verschärft. Und ein halbes Jahr nach dem Absturz des malaysischen Passagierjets über der Ost-Ukraine gerät die russische Regierung zunehmend unter Tatverdacht.

Der niederländische Flugunfall-Untersuchungsbericht, eine schlüssige Indizienkette, Zeugenbefragungen, Fahrzeugspuren sowie Fotos und Videos im Internet engen den potenziellen Täterkreis zunehmend ein: Es war offenbar ein Panzer der russischen Flugabwehrraketenbrigade 53 aus Kursk, der von der Ortschaft Snischne aus den Flugkörper auf die Boeing 777 in mehr als zehn Kilometer Höhe abgefeuert hat. Bei dem Absturz von Flug MH 17 waren am 17. Juli 298 Menschen ums Leben gekommen, meist Niederländer. Snischne liegt im ost-ukrainischen Rebellengebiet und ist nur knapp 20 Kilometer von der russischen Grenze entfernt.

Die ukrainische Regierung hatte behauptet, dass prorussische Separatisten die Maschine abgeschossen hätten. Russland und die Rebellen machten dagegen wechselnd ein ukrainisches Flugabwehrsystem oder ein ukrainisches Kampfflugzeug verantwortlich. Alles falsch, sagen teils unabhängig voneinander recherchierende Medien und Gruppen wie die britische Enthüllungs-Plattform "Bellingcat", das Magazin "Spiegel", die "Zeit" oder das niederländische "Algemeen Dagblatt". Gestützt werden diese Erkenntnisse auch durch Informationen unserer Zeitung.

Hilfreich war, dass russische und ukrainische Bürger um den Zeitpunkt des Abschusses herum Hunderte von Filmen und Fotos ins Internet gestellt haben. Diese ermöglichten es in mühevoller Detektivarbeit, den Weg der verdächtigen Abschussrampe auf einem Panzerfahrgestell exakt nachzuverfolgen.

Das große Abschussgerät "Buk" mit vier Raketen und Radarkuppel sieht so ungewöhnlich aus, dass es viele Menschen in der Konfliktregion von ihren Wohnhäusern aus fotografierten und auch mit der russischen Besatzung sprachen. In Russland sind zur Beweissicherung bei Unfällen Kameras in Autos besonders verbreitet, so dass außerdem etliche Videos von Militärkolonnen existieren - mit Datum und Uhrzeit. Besonders originell: Auch die russischen Soldaten selbst posteten Handy-Fotos von unterwegs.

Demnach waren mindestens zwei Flugabwehrsysteme der 53. Flugabwehrbrigade auf russischen Straßen entlang der ukrainischen Grenze von Kursk in Richtung Rostow am Don unterwegs. Mindestens eines mit der vermutlichen Nummer 312 (die 1 war größtenteils abgekratzt, was aber, wie kleine Beschädigungen an der Abdeckung des Kettenfahrgestells, die Identifizierung erleichterte) überquerte im Rebellengebiet die Grenze - offenbar zur Tarnung umgeladen auf einen gestohlenen weißen Lkw.

Mindestens ein Augenzeuge bestätigt den Start einer "Buk"-Rakete am Ortsrand von Snischne, danach fielen die Boeing-Trümmer vom Himmel. Auffällige Kettenspuren von Panzern sind auf einem nahen Feld noch heute zu sehen, indes kein konkreter Beweis für den Abschuss.

Beide Konfliktparteien sehen aber ein Video als echt an, das ein "Buk"-Abschussgestell am 17. Juli mit nur noch drei statt vier Raketen auf jenem weißen Tieflader zeigt. Russland und die Ukraine verorten den Film jedoch jeweils an anderer Stelle, um sich gegenseitig die Schuld zuzuschieben. Die Straßenkreuzung ist indes inzwischen präzise zuzuordnen: Sie liegt in Lugansk, mitten im Rebellengebiet.

In Nato-Kreisen war bereits unmittelbar nach dem Abschuss zu hören, es sei eine russische "Buk"-Rakete gewesen. Eine Quelle sprach sogar von deren Abschuss von russischem Territorium aus - alles blieb unbestätigt. Die Amerikaner hätten weitere Hinweise auf die russische Beteiligung, unter anderem durch ihre Satelliten, war zu hören. Zwei Awacs-Radaraufklärer der Nato seien zum Absturzzeitpunkt über Polen und Rumänien unterwegs gewesen, hieß es, was später dementiert wurde. Dann war die Rede von einem einzelnen Radarjet, dessen Aufklärungsergebnisse aber niemals veröffentlicht wurden - Anlass für viele Verschwörungstheorien.

Dahinter könnte indes schlicht die Sorge der westlichen Regierungen stehen, Präsident Wladimir Putin würde durch die Beweise noch mehr international isoliert, und der Ost-West-Konflikt könnte daraufhin unkalkulierbar eskalieren.

Fest steht, dass die Boeing mit einer großen, radargesteuerten Flugabwehrrakete abgeschossen wurde. Der niederländische Untersuchungsbericht spricht von einem dichten Splitterhagel, der von außen und von vorn, etwas von oben kommend die Boeing abrupt zum Absturz brachte. Das schließt Vermutungen einer Bombe im Frachtraum ebenso aus wie die russische Behauptung, ein ukrainisches Sukhoi Su-25-Kampfflugzeug habe die Boeing mit einer Lenkwaffe abgeschossen. Die Su-25 ist ein stark gepanzertes Flugzeug gegen Bodentruppen. Die ältere Version erreicht deshalb auch nur eine Höhe von maximal 7000 Meter und führt keine Abwehrraketen mit.

Mal ist der Himmel blau und klar, mal bewölkt. Mal liegt Munition der Bordkanone einer abgeschossenen ukrainischen Sukhoi Su-25 unter den Trümmern, die angeblich von der Boeing stammen sollen. Mal stürzt erkennbar ein Antonow-Transporter ab, soll aber MH 17 sein - das Netz ist überschwemmt mit Fälschungen und Täuschungsversuchen. Die Russen, davon sind die Rechercheure überzeugt, manipulierten auch das Foto von der "Buk" in Lugansk. Sie legten außerdem zwei Fotos übereinander, um ein Satellitenbild darzustellen, das den Abschuss der Boeing durch einen Kampfjet zeigt, merkwürdigerweise von der Silhouette her eher eine Mig-29 oder eine Su-27 "Flanker" als eine Su-25.

Um die Verwirrung komplett zu machen, hatten die Separatisten unmittelbar nach dem Abschuss, mit dem sie sich zunächst gebrüstet hatten, große durchlöcherte Wrackteile zunächst mit Kranwagen weggeschafft, wie Fotos beweisen, dann aber Tage später wieder im Absturzgebiet platziert. So wurde in einem dichten Waldstück ein fast intaktes Stück des Rumpfes mit toten Passagieren entdeckt, die Baumkronen darüber waren jedoch unbeschädigt. Ein weiteres, von Splittern durchsiebtes Wrackteil lehnte an einem Strommast und kann so nicht vom Himmel gefallen sein.

Etliche Spekulationen gibt es zum Tatmotiv. Die wahrscheinlichste These: Das kompliziert zu bedienende "Buk"-System, das Rebellen als Bediener ausschließt, wird normalerweise im Verbund von mehreren Radar-, Kommando- und Raketenpanzern eingesetzt. Der Panzer mit den Startern kann aber auch allein operieren, weil er ein eigenes Feuerleitradar besitzt. Das erkennt aber Zivilflugzeuge nicht und ist auf Automatik zu stellen, was in Snischne der Fall gewesen sein könnte.

Auch darin mag ein Grund für das Schweigen des Westens bestehen: Man wollte die Krise möglicherweise nicht mit der Veröffentlichung von Erkenntnissen anheizen, dass reguläres russisches Militär mit modernen Waffen und in großem Umfang die prorussischen Rebellen in der Ost-Ukraine unterstützt. So unterblieb fatalerweise die Warnung an die Zivilluftfahrt, die 298 Menschenleben gerettet hätte.

(RP)
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