Berlin Minderheitsregierung schreckt nicht alle ab

Berlin · Ein Verfassungsrechtler sieht in einer Regierung ohne Mehrheit im Bundestag "die Stunde des Parlaments" gekommen.

Deutschland steht acht Wochen nach der Bundestagswahl eine weitere Hängepartie bevor. Nach den gescheiterten Gesprächen zwischen Union, FDP und Grünen bleiben vier Möglichkeiten: Die SPD entscheidet sich doch noch für eine Wiederauflage der großen Koalition. Es gibt Neuwahlen. Es gibt eine Minderheitsregierung. Oder die geschäftsführende Bundesregierung bleibt einfach erst einmal im Amt. Mit einer Minderheitsregierung gibt es in der Bundesrepublik zumindest auf Länderebene gute Erfahrungen, sie haben teils über mehrere Jahre relativ stabil regiert. Im Bund gab es sie bisher nur in Übergangsphasen. Dabei verfügt die Regierung nicht über die normalerweise erforderliche absolute Mehrheit der Stimmen im Parlament und ist bei jeder Entscheidung auf Stimmen aus anderen Fraktionen angewiesen. "Die sind dann meist nur gegen Gegenleistungen zu haben. Deshalb ist eine Minderheitsregierung zwar fragil, aber die Stunde des Parlaments", sagt der Verfassungsrechtler Joachim Wieland. In der Regel kennzeichne eine Minderheitsregierung, dass sie nur ein Regieren auf Sicht möglich macht. "Eine Mehrheitsregierung ist sicher stabiler, aber solange das Volk so wählt, wie es wählt, bleibt es schwierig", erklärt Wieland.

Dem Verfassungsrechtler zufolge, ist es nicht unüblich im Falle einer Minderheitsregierung Verabredungen zu treffen. Union und SPD könnten etwa vereinbaren, dass die SPD in staatspolitischen Grundsatzentscheidungen wie der Außen- und Sicherheitspolitik die Union unterstützt. Das wäre dann so etwas wie ein lose vereinbarter Koalitionsvertrag, die Union könnte sich aber lediglich in bestimmten Fragen auf die Solidarität der SPD verlassen. "In den Minderheitsregierungen, wie wir sie aus den Bundesländern kennen, gab es solche Absprachen auch", sagt Wieland.

Bundeskanzlerin Angela Merkel würde Neuwahlen aber klar den Vorzug vor einer Minderheitsregierung geben, in der sie in bestimmten Situationen auch von den Stimmen der AfD abhängig sein könnte. "Dann wären Neuwahlen der bessere Weg", sagte Merkel. Auch die stellvertretende CDU-Bundesvorsitzende Julia Klöckner bezeichnete eine Minderheitsregierung als die "schlechteste Variante". Grünen-Politiker Winfried Kretschmann hält eine Minderheitsregierung für sehr unwahrscheinlich. Das Land habe keine Tradition in dieser Hinsicht, sagte Baden-Württembergs Ministerpräsident. Auch Landesinnenminister Thomas Strobl, der als CDU-Bundesvize wie Kretschmann zu den Jamaika-Unterhändlern gehörte, sprach sich gegen eine Minderheitsregierung aus. Ein Land mit 82 Millionen Einwohnern und Verantwortung in Europa brauche eine stabile und verlässliche Regierungsarbeit. "Das ist bei einer Minderheitsregierung schwierig."

Die ehemalige AfD-Chefin Frauke Petry hat sich nach dem Scheitern der Jamaika-Verhandlungen dagegen für eine Minderheitsregierung ausgesprochen: "Man sollte nun eine Minderheitsregierung wagen. Das würde am meisten Bewegung in die Debatte bringen", sagte Petry in einem Zeitungsinterview. Petry hatte am Tag nach der Bundestagswahl angekündigt, der AfD-Fraktion nicht angehören zu wollen. Wenig später trat sie auch aus der Partei aus. Sie sitzt nun gemeinsam mit dem nordrhein-westfälischen Abgeordneten und Ex-AfDler Mario Mieruch fraktionslos im Bundestag.

Bei Neuwahlen würde Petry sehr wahrscheinlich ihr Direktmandat verlieren. Das sei aber nicht der Grund, warum sie einen weiteren Wahltermin ablehne. "Das Einzelschicksal von Abgeordneten ist für das Land nicht relevant", sagte sie.

(RP/dpa)
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