Sommer-Interview Andrea Nahles (SPD) "Eine Anti-Stress-Verordnung ist mein Ziel"

Berlin · Arbeitsministerin Andrea Nahles will 2015 Kriterien für eine Anti-Stress-Verordnung vorlegen. "Es gibt unbestritten einen Zusammenhang zwischen Dauererreichbarkeit und der Zunahme von psychischen Erkrankungen, das haben mittlerweile auch die Arbeitgeber anerkannt. Wir haben dazu auch wissenschaftliche Erkenntnisse", sagte Nahles unserer Redaktion.

Ministerin Andrea Nahles (SPD): "Eine Anti-Stress-Verordnung ist mein Ziel"
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Wie viele Stunden pro Woche arbeitet die Arbeitsministerin?

Nahles Sehr viele (lacht). Aber das bringt mein Job mit sich. Und es ist auch nicht neu für mich. Als Generalsekretärin habe ich die Regelarbeitszeit auch nicht eingehalten. Aber erstens erfüllt mich die Arbeit als Ministerin. Und zweitens schaufele ich mir mit langen Tagen unter der Woche Zeit frei für freie Wochenenden mit der Familie.

Dann sind Sie eine Kandidatin für ein Burnout . . .

Nahles Nein. Das ist wie bei einer Leistungssportlerin, bei der durch das viele Training das Herz wächst. Meine Belastbarkeit ist mit den Jahren gewachsen. Früher haben wichtige Entscheidungen bei mir mehr Stress ausgelöst. Mittlerweile habe ich darin Übung. Trotzdem gibt es einen Preis, den man zahlt: Ich bin zum Beispiel bei Alltagsstress dünnhäutiger geworden. Wenn ich gerade mitten in harten Arbeitswochen stecke und ein Flugzeug Verspätung hat, dann nervt mich das sehr.

Deutschland diskutiert über eine Anti-Stress-Verordnung, die Arbeitnehmer zum Beispiel vor E-Mails im Urlaub schützen soll. Werden Sie tätig?

Nahles Ja. Das ist mein Ziel. Ich habe dafür gesorgt, dass die Prüfung einer Anti-Stress-Verordnung in den Koalitionsvertrag hineinkommt. Es gibt unbestritten einen Zusammenhang zwischen Dauererreichbarkeit und der Zunahme von psychischen Erkrankungen, das haben mittlerweile auch die Arbeitgeber anerkannt. Wir haben dazu auch wissenschaftliche Erkenntnisse. Dennoch ist es eine Herausforderung, diese gesetzlich rechtssicher umzusetzen. Daher haben wir die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin beauftragt, fundiert aufzuarbeiten, ob und wie es möglich ist, Belastungsschwellen festzulegen. Wir brauchen allgemeingültige und rechtssichere Kriterien, bevor wir den Betrieben etwas vorschreiben. 2015 sollen dazu erste Ergebnisse vorliegen.

Und bis dahin müssen wir mit der Dauererreichbarkeit leben?

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Nahles Viele Unternehmen packen das Thema schon an. Davon können und sollen andere lernen. Wir helfen Arbeitgebern zum Beispiel im Rahmen der Initiative "Neue Qualität der Arbeit" dabei, Stressfaktoren zu erkennen und diese Ursachen gemeinsam mit Beschäftigten und Betriebsräten anzugehen. Es gibt darüber hinaus auch schon eine Klarstellung im Arbeitsschutzgesetz, dass psychische Belastungen bei der Gefährdungsbeurteilung berücksichtigt werden müssen. Jeder Arbeitgeber ist und bleibt beim psychischen Arbeitsschutz ganz klar in der Pflicht. Er darf psychische Belastungen nicht anders behandeln als physische Belastungen.

Seit Start des Rentenpakets am 1. Juli stellten 85 000 Arbeitnehmer Antrag auf Rente ab 63. Sind das viele?

Nahles Die Zahl ist vollkommen im Rahmen des Erwarteten. Wir sind von einer Obergrenze von 240 000 Beschäftigten im Jahr 2014 ausgegangen, die Anspruch auf die Rente nach 45 Jahren Arbeit haben könnten. Da sind 85 000 zum jetzigen Zeitpunkt keine Überraschung. Manch einer wird abgewartet haben, bis die Regelung galt - ein gewisser Nachholeffekt spielt also mit rein. Und: Diese Anträge müssen erst einmal geprüft werden. Es ist nicht ausgemacht, dass alle Antragsteller auch wirklich die Voraussetzungen für die Rente ab 63 erfüllen.

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Foto: Techniker Krankenkasse

Auch die Erhöhung der Mütterrente ist zum 1. Juli in Kraft getreten. Wann werden die ersten Zahlungen bei den Frauen auf den Konten landen?

Nahles Jetzt kommen in dieser Woche die Renten aufs Konto, die wegen der besseren Anerkennung der Erziehungszeiten höher ausfallen. Und mit den Nachzahlungen hat die Rentenversicherung auch schon begonnen. Es wird sicher noch einige Wochen dauern, bis alle 9,5 Millionen Frauen, deren Rente sich wegen ihrer vor 1992 geborenen Kinder erhöht, das Geld auf dem Konto haben. Aber klar ist: Alle bekommen, was ihnen zusteht. Und dafür ist bei allen, die schon eine Rente bekommen, kein Antrag nötig. Das Geld kommt automatisch.

Wann werden Sie den Gesetzentwurf für die Rentenangleichung im Osten vorlegen?

Nahles Ich habe mich über das klare Bekenntnis der Kanzlerin sehr gefreut. Wir haben uns in den Koalitionsgesprächen für die Angleichung starkgemacht. Wir werden 2016 bewerten, wo wir in Sachen Angleichung stehen, und dann gegebenenfalls 2017 die erste Teilanpassung gesetzlich regeln. Mit der Neuaushandlung der Bund-Länder-Finanzen 2019, wenn auch der Soli ausläuft, wollen wir die Angleichung abgeschlossen haben.

Wird dann zur ausgleichenden Gerechtigkeit auch die Höherwertung der Rentenpunkte der Ostdeutschen zurückgenommen?

Nahles Alle Einzelheiten werden im Rahmen der Gesetzgebung geregelt. Da kann und werde ich jetzt keine Festlegungen treffen. Der Wert eines Entgeltpunkts im Osten liegt jetzt schon bei 92,1 Prozent des Werts im Westen. Bei der Wiedervereinigung waren es knapp 40 Prozent. Allein durch den Mindestlohn werden sich die Werte noch weiter angleichen. Wenn die Vereinheitlichung dann kommt, werden wir nach heutigen Schätzungen irgendwo zwischen 95 und 100 Prozent liegen.

Was wollen Sie beim Thema Armutszuwanderung unternehmen?

Nahles An erster Stelle steht, dass wir den Kommunen, die ganz besonders von Problemen mit Zuwanderung betroffen sind, zur Seite stehen und helfen. Das bedeutet auch finanzielle Unterstützung. Zweitens stehen wir uneingeschränkt zu einer der zentralen Säulen der europäischen Einigung: der Freizügigkeit. Es ist gerade eine ungeheure Stärke der EU, dass sich die Menschen ungehindert über die Landesgrenzen hinweg bewegen und Arbeit suchen können. Aber ich halte es für richtig, dass wir auf der europäischen Ebene unsere Regelung verteidigen: Im Grundsatz gibt es in den ersten drei Monaten und für die Zeit der Arbeitssuche keine Grundsicherungsleistungen. Das ist wichtig, um unsere Sozialsysteme legitim, verlässlich und leistungsfähig zu halten für alle, die auf Hilfe angewiesen sind.

RENA LEHMANN UND EVA QUADBECK FÜHRTEN DAS GESPRÄCH.

(RP)
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