Mit Neuwahlen spielt man nicht

Jamaika bleibt eine Insel in der Karibik. Eine Regierung in Berlin wird dieses Vierer-Bündnis nach dem in Art und Form ungewöhnlichen Scheitern auf absehbare Zeit nicht mehr. Wer ist der Schuldige? Diesen Titel hat FDP-Chef Christian Lindner öffentlich für sich reklamiert. Seine Erklärung in der Nacht zu Montag war vorbereitet, der Sprechzettel lässt dies vermuten - er wollte das Ende der Verhandlungen.

Christian Lindner sagt, das Vertrauen habe gefehlt. Wer die Gespräche verfolgt hat, muss dem zustimmen. Durchstechereien, Sticheleien, Missmut. Es war ein Auf und Ab der Eitelkeiten und Emotionen. Aber ist es das nicht immer bei Koalitionsverhandlungen? Jamaika war auch nie ein Wunschmodell, sondern ein kompliziertes Zweckbündnis früherer Gegner. Es war nach der Bundestagswahl und der (breit kritisierten) Absage der SPD aber die einzig denkbare Konstellation. Das wussten die Liberalen. Deutschland braucht Führung. Europa braucht eine handlungsfähige Bundesregierung. Hier ging es um mehr als Befindlichkeiten. Die Wähler haben bei der Bundestagswahl die Grünen und die FDP gestärkt, nicht SPD und Union. Sie wollten, dass die beiden kleinen Parteien mehr Einfluss haben und, ja, auch mehr Verantwortung übernehmen. Die FDP hat diese Verantwortung nun von sich gewiesen.

Eine Rolle dürfte bei Christian Lindner das Trauma gespielt haben, das der FDP seit 1961 und verstärkt seit der Westerwelle-Ära schlaflose Nächte bereitet. Damals verhalf die FDP der Adenauer-CDU zur Macht, obwohl man dies im Vorfeld der Bundestagswahl abgelehnt hatte. Später zeigte sich die Westerwelle-FDP inhaltlich geschmeidig. Eine Partei, die nur auf Posten und Positionen schielt. Eine Partei, die Prinzipien verrät, wenn sie die Insignien der Macht vor Augen hat. Das war das Image. In dem Verhandlungsabbruch sah der FDP-Chef nun die Gelegenheit, diesen Vorwurf loszuwerden. Aber zu welchem Preis? Rechtfertigt das legitime Parteiinteresse eine Regierungskrise? Wohl kaum.

Hätte die FDP nicht wenigstens versuchen müssen, in der Regierung liberale Politik umzusetzen? Manch ein Anhänger sieht das so. Das britische Magazin "The Economist" nennt Lindners Entscheidung "zweifelhaft". Das Konsenspapier der Jamaika-Unterhändler beinhaltete ja wichtige Reformen, die auch eine liberale Handschrift trugen. Der Abbau des Soli war vorgesehen. Etwas später, ja. Aber immerhin. Eine große Koalition oder Schwarz-Grün würde den Soli umwidmen und den Bürgern die überfällige Entlastung gänzlich verweigern. Die Bildungsoffensive, die Ideen für eine Digitalisierung von Ämtern und Schulen, der Ausbau des Glasfasernetzes, die marktwirtschaftlichen Elemente in der Energiepolitik, die Hilfen für Kommunen. All das war verhandelt. Ist das nichts? Natürlich ist es ärgerlich, dass die Abschaffung des Kooperationsverbots in der Bildung immer noch an schwarz-grünen Ministerpräsidenten scheitert. Aber Politik ist die Kunst des Möglichen. Lindners FDP hat elf Prozent geholt, nicht 51. Auch in der Migrationsfrage wurde viel Ordnendes vereinbart, die De-facto-Obergrenze, die sicheren Herkunftsstaaten. Das wollten auch Liberale.

"Nichtstun ist Machtmissbrauch", hatte die FDP im NRW-Landtagswahlkampf angesichts der Tatenlosigkeit der SPD-Regierung (zu Recht) plakatiert. Nun wollen die Liberalen selbst nicht mittun. Sie setzen sich lächelnd auf die Zuschauerbank. Da sitzt aber schon die SPD, stur und schmollend. Ihre unverantwortliche Verweigerungshaltung hat die SPD gestern dreisterweise noch mal kurz vor der Pressekonferenz des Bundespräsidenten kundgetan. Ob die SPD und die FDP bei Neuwahlen von dieser Haltung profitieren, darf bezweifelt werden.

Der Bundespräsident hat es nicht so plakativ gesagt. Aber gemeint hat er gestern dies: Man kann das Wählervotum nicht einfach zurückgeben wie einen verfaulten Apfel beim Obstbauern. So funktioniert Demokratie nicht. Mit Neuwahlen spielt man nicht. Schwere Tage für ein Land, das mal Stabilitätsanker in einem verunsicherten Europa war.

(brö)
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