Beirut Müllkrieg im Libanon

Beirut · Seit mehr als fünf Wochen wird in Beirut kein Abfall mehr abgeholt. Aus dem Protest dagegen hat sich eine neue Bewegung formiert: Mit dem Slogan "Ihr stinkt" geht es um eine Rebellion gegen das verkrustete politische System aus Konfessionsproporz und Familienclans.

Für viele Libanesen stinkt derzeit nicht nur der Müll, sondern ihr gesamtes politisches System zum Himmel. In der bisher größten Manifestation ihres Ärgers versammelten sich am Wochenende Zehntausende aus dem ganzen Land in der Innenstadt Beiruts, um im Namen der neuen "Ihr Stinkt"- Bewegung gegen ihre Politiker zu demonstrieren. Die Müllkrise ist ein Symbol: Das politische System, basierend auf einem Proporz von Religionsgruppen und kontrolliert von Familienclans, funktioniert nicht mehr; der Staat kollabiert. Seit über fünf Wochen wird im Libanon der Abfall nicht mehr abgeholt. Überall in Beirut türmen sich die Müllberge auf. In vielen andern Gemeinden wird er einfach wild in die Landschaft gekippt. Der Grund: Die bisherigen Müllentsorgungsverträge mit privaten Firmen und einer bisher verwendeten Mülldeponie sind abgelaufen. Parteien, schiitische, sunnitische, christliche und drusische Politiker und korrupte Beamte konnten sich monatelang nicht auf neue Verträge einigen.

Marwan Maalouf ist einer der Organisatoren von "Ihr stinkt". Er erklärt im Gespräch mit unserer Zeitung den Namen der Bewegung: "Das Ganze hat ein Maß erreicht, in dem nicht nur der Müll in unseren Städten, sondern auch unsere Politiker stinken." Für ihn geht es schon längst nicht mehr darum, dass nun endlich der Abfall eingesammelt wird. "Der Müll hat den Libanesen wach gemacht. Er weiß, dass es eine korrupte politische Klasse gibt, er kennt die konfessionellen Verstrickungen. Er musste nur geweckt werden." Die meist jungen Organisatoren ziehen mit ihren Forderungen immer mehr an. Ging es ursprünglich nur darum, dass endlich der Müll wieder eingesammelt wird, verlangen sie nun den Rücktritt des Umweltministers innerhalb von 72 Stunden. Außerdem soll der Innenminister zur Verantwortung gezogen werden für einen brutalen Polizeieinsatz gegen die Demonstranten am Wochenende zuvor.

Die Polizei hatte Tränengas und Wasserwerfer eingesetzt, als eine kleine Gruppe versuchte, den mit Stacheldraht eingeigelten Regierungsbezirk zu stürmen, es gab 300 Verletzte auch unter den Demonstranten, die friedlich protestiert hatten. Bei der Demonstration an diesem Wochenende blieb es ruhig; viele Familien waren gekommen, es herrschte Volksfeststimmung.

"Das ist nur der Anfang", rief Rascha Halabi, ein weiterer Kopf der Bewegung, den Demonstranten unter tosendem Applaus zu, nachdem sie die Forderungen verlesen hatte, zu denen auch der Aufruf zu Neuwahlen gehörte. Das Land hat seit 18 Monaten keinen Präsidenten, und das Parlament hat zweimal Wahlen verschoben, um seine Amtszeit zu verlängern. Das wirft für die "Ihr stinkt"- Bewegung nicht nur die Frage der Ineffektivität staatlicher Dienstleistungen, sondern auch der Legitimität des Parlaments und der Regierung auf.

Eine halbe Autostunde von Beirut entfernt, in den Bergen mit einem atemberaubenden Blick auf das Meer auf der einen und in ein grünes Bergtal auf der anderen Seite, empfängt uns eine sichtlich frustrierte junge Frau. Sie wollte uns das zeigen, sagt die Umweltjournalistin Nadine Mazloum. Es ist die illegale Müllkippe der Gemeinde Romana, und die ist kein Einzelfall. Alle paar Minuten durchbricht das Dröhnen eines Lkw die zirpenden Zikaden und das Vogelgezwitscher. Die Lastwägen fahren vor, legen ihren Rückwärtsgang ein, fahren bis an den Rand eines Steilhangs und kippen ihre Müllladung in die Landschaft. Über dem Ganzen hängt ein unerträglicher Gestank.

"Das wird alles demnächst, wenn es regnet, ins Grundwasser gelangen, dann werden es die Flüsse nach unten tragen und der Wind, der im Winter oft stürmisch wird, wird das Plastik in der ganzen Landschaft verteilen", sagt Mazloum. Viele dieser illegalen Müllkippen lägen auch direkt am Meer. "Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Strömungen den ersten Müll Richtung Europa treiben", warnt sie. "Alle reden von Politik, das ist aber auch eine ökologische Katastrophe." Dann flüchtet sie, weil ein Fahrzeug heranbraust und ein wutentbrannter Dorfpolizist aussteigt. Er droht gar mit einer Festnahme.

Zurück in Beirut, erklärt Maha Yahia von der Carnegie-Stiftung, dass die Krise inzwischen weit größer ist als das Müllproblem. "Die Libanesen haben genug davon, dass ihre politische Identität einzig durch ihre Religionszugehörigkeit bestimmt wird." Die Korruption habe ein Ausmaß erreicht, "das nicht mehr auszuhalten ist, weil sie sich negativ auf das tägliche Leben auswirkt".

(RP)
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